Lesedauer: 8 Minuten

Passmanns – Past Perfect

Hommage an Bottrops älteste Kult(ur)kneipe

In Bottrop, wo die Vergangenheit wie ein Schatten über den Straßen liegt, existierte einst eine Kneipe, die mehr als nur ein Ort zum Trinken war. „Passmann“ nannte man sie, eine Gaststätte, die seit 1893* in den Annalen der Stadt verzeichnet war und seit den 1970er Jahren in einen Dornröschenschlaf versunken schien.

Die Wiederbelebung

Zwanzig Jahre sind vergangen seit jenem Septembertag im Jahr 2004, als Reimbern von Wedel-Parlow seine Hand nach diesem verblassenden Juwel ausstreckte. Wie ein Phönix aus der Asche erhob sich die Kneipe unter von Wedel-Parlows Führung. Er erweiterte den ursprünglichen Namen „Passmann“ um ein Genitiv-S zu „Passmanns“ – eine subtile Veränderung, die wie ein Hauch von Neuanfang wirkte. Sein Konzept war eigenwillig, vielleicht sogar exzentrisch, aber es war genau das, was dieser Ort zu diesem Zeitpunkt brauchte.

Das Scheitern und die Beharrlichkeit

Die Mauern der Kneipe an der Kirchhellener Straße 57 flüsterten Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Vor dem Ersten Weltkrieg fanden hier holländische Kolonisten ein Stück Heimat. Der kleine Saal, ein Refugium für Künstler und Denker, bot schon damals ein facettenreiches Kulturprogramm.

Viele hatten versucht, den alten Glanz wiederherzustellen, doch ihre Bemühungen waren wie Sandburgen vor der Flut – zum Scheitern verurteilt. Reimbern von Wedel-Parlow hatte eine Vision: Er wollte einen Ort schaffen, der mehr als nur eine gewöhnliche Kneipe war – eine Kulturkneipe, in der sich Kunst, Theater, Literatur, Livemusik, Partys und gutes Essen vereinen sollten. Mit einer hellen, funktionalen Inneneinrichtung, die schnell den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werden konnte. Zudem wollte er einigen ehemaligen „em pom pie“-Stammgästen eine neue Heimat bieten. Und tatsächlich: Es hat funktioniert.

Anzeige

70er-Jahre-Filmparty

Im Oktober 2004 veranstalteten wir unsere erste Filmparty im „Passmanns“. Gezeigt wurde an jenem Samstagabend mein Spielfilm von 1977: „Der werkenden Jugend – Dem wirkenden Volke“. DJ-Legende „Spatz“ stand an den Plattentellern. Wir rechneten mit 150 Gästen, es kamen dreimal so viele. Bereits kurz vor 20 Uhr mussten wir die Türen verschließen.

Die Leute kamen aus Münster, Dortmund oder Köln. Vor der Kulturkneipe versammelten sich bestimmt an die 300 Menschen. Viele von ihnen hatten in irgendeinem meiner Filme mitgespielt. Ich musste hinausgehen und mit ihnen reden, die Situation erklären. Einen Teil der Gäste konnten wir zwischenzeitlich in der Mühle unterbringen, die damals von Ramona (heute Hürter) betrieben wurde. Sie freute sich über jeden Gast. Und so verbrachte ich die ersten zwei Stunden meiner Filmparty draußen vor der Tür, von Reimbern mit zwei Flaschen Rotwein ausgestattet, während drinnen der Bär tobte. Dies war der Auftakt zu weiteren Filmpartys, die folgen sollten.

Party Location, Speiselokal und kultureller Hotspot

Im Laufe der Jahre traten im „Passmanns“ unzählige Bands auf. Kabarettist Benjamin Eisenberg startete hier sein stets ausverkauftes Neujahrskabarett. Nito Torres probte hier seine Monologe. Die DJ-Legende „LaBrie“ erblickte in der Kult(ur)kneipe das Licht der Partyszene und legte fortan zu Karnevalszeit, beim „Tanz in den Mai“ oder zu Silvester an den Plattentellern auf.

Namhafte Künstler präsentierten in der Bottroper Kneipe ihre Werke, und die „Humboldt Buchhandlung“ füllte mit ihren literarischen Abenden einmal im Monat den Saal.. Unvergessen sind die tollen Sommerfeste mit Jürgen Pluta, den „Dirty Tigers“ & Co. sowie den dazugehörigen 3-Gänge-Menüs, bei denen die Gäste auf langen, unbequemen Sitzbänken in brütender Hitze tafelten.

Auch als Speiselokal mit moderaten Preisen machte sich die Gaststätte schnell einen Namen. Die Lasagne und die zahlreichen Pizza-Varianten wurden rasch zu Rennern.

Ludger Kuhlmann und die vierzig Frauen

Doch bevor ich die Geschichte zu sehr verkläre, möchte ich anmerken, dass es auch damals Samstagabende gab, die man schlicht als „tote Hose“ beschreiben konnte. Dazu eine Anekdote:

Ich saß mit meinem alten Kumpel Hans-Peter an der Theke, hinter der an diesem Samstagabend Roger Keller die Stellung hielt. Reimbern praktizierte seine Work-Life-Balance und lag zu Hause auf dem Sofa. Wir waren die einzigen Gäste und trauerten gemeinsam mit Roger den alten „Schaukelstühlchen-“ und „Bistro“-Zeiten nach. Wie immer, wenn in Bottrop mal nichts los war. Dania, die junge Servicekraft, stand gelangweilt in einer Ecke hinter dem Tresen, und Koch Tony hielt derweil ein Nickerchen in der Küche. Ein gelegentliches Röcheln erinnerte an seine Anwesenheit. Um 22:23 Uhr meinte Hans-Peter: „Das wird heute nix mehr“.
„Einer dieser Samstage“, sagte ich.
„Ich denke, du kannst um 23 Uhr Feierabend machen, Dania“, rief Roger seiner Kollegin zu.
„Jetzt müsste die Tür aufgehen und 40 Frauen reinkommen“, seufzte Hans-Peter.
„Warum 40, eine intelligente, attraktive Dame im Flirtmodus würde reichen?“
„Na, nur so“, antwortete Hans-Peter.

Just in diesem Moment parkte Ludger Kuhlmann seinen Reisebus direkt vor dem „Passmanns“. Die Eingangstür öffnete sich und über 40 Frauen fluteten die Gaststätte. Ludgers Bustouren waren in jenen Tagen berüchtigt. Er hatte die Frauen auf einer feministischen Tagung in Dortmund abgeholt und, wie von den Damen gewünscht, direkt vors „Passmanns“ chauffiert.

Wir waren dermaßen verblüfft, das wir der Frauenwelt an diesem Abend den Rücken kehrten und eingeschüchtert den Mittelpunkt der Erde auf unseren Barhockern suchten. Seit jenem Abend glaube ich, dass wir von einem großen Quantenfeld umgeben sind, das auf unsere Gedankenenergie reagieren könnte und dass wir vorsichtig sein müssen mit dem, was wir uns wünschen ;-)

Das Restaurant der Herzen

Einmal im Jahr lud Reimbern die „Kolüsch-Gäste“ zu sich ins „Passmanns“ ein. Für diesen besonderen Tag wurden die Tische mit weißen Decken geschmückt und das gute Geschirr aus dem Schrank geholt. Serviert wurden z. B. Lasagne und ein Dessert. Unterstützt wurde er dabei von den Helferinnen und Helfern des ESB-Teams. Für den engagierten Passmanns-Betreiber war diese Einladung eine Selbstverständlichkeit und stellte, neben zahlreichen Benefizveranstaltungen, seinen Beitrag zur Unterstützung von Wohnungslosen und Armen in seiner Geburtsstadt Bottrop dar.

Starthilfe fürs „Stadt-Café“

2011 eröffnete Reimbern dann gemeinsam mit Bottrops bestem Bartender „Schorsch“ das „Stadt-Café“. Dies führte dazu, dass viele Passmanns-Gäste um Mitternacht die Lokalität wechselten, denn das „Stadt-Café“ entwickelte sich schnell zum angesagten Nachtasyl. Schorsch erwies sich immer noch als erfolgreicher Barfliegenfänger. Nachdem Reimbern unserem Schorsch die nötige Starthilfe gegeben hatte, zog er sich aus dem „Stadt-Café“ zurück.

This is the end, My only friend, the end

Die Geschichte nahm ihren Lauf. Die Gastromeile wurde zunehmend attraktiver. Das Ausgehverhalten vieler Stammgäste veränderte sich. Passmanns einfache Speisekarte war nach wie vor sehr gefragt, und auch bei Veranstaltungen konnte die Kult(ur)kneipe immer noch punkten, doch der Aufstieg wurde zur Sinuskurve.

Mit Reimbern von Wedel-Parlows Eintritt in den vorläufigen Ruhestand 2018 entstand eine Vakanz, die sein Nachfolger nicht zu füllen vermochte. Das „Passmanns“ büßte nicht nur seinen „Patrone“ ein, sondern verlor auch seine Seele. Im Zuge der Corona-Krise verschoben sich die Prioritäten des neuen Pächters, und eine spürbare Apathie breitete sich aus, die auch den Gästen nicht verborgen blieb. An Wochenenden blieben die Türen verschlossen, das pulsierende Partyleben verstummte, die digitale Präsenz verschwand spurlos. Nach zwei Jahrzehnten voller Leben senkte sich schließlich der Vorhang über das „Passmanns“.

Heimatlos

Für viele war „Passmanns“ ein Zuhause, die letzte Stammkneipe vor dem Altersheim. Andere starteten hier sogar ihre Karriere, wie z. B. Quasselstrippe Piet Metzen. Im Laufe der Jahre arbeiteten unter Reimberns Leitung insgesamt etwa 116 Personen in der Kult(ur)kneipe, bei geringer Fluktuation.

Heute sieht man manchmal ehemalige Stammgäste zwischen den Lichtern der Gastromeile umherirren, auf der Suche nach etwas, das nicht mehr existiert. Einige finden vorübergehenden Trost im „Hürter“, andere suchen Zuflucht beim „Schorsch“ oder in der „Weinbar“ des Sankt Martin. Doch diese Orte sind nur Zwischenstationen, flüchtige Illusionen von Heimat.

Die Wahrheit ist, dass nichts Bestand hat in dieser Welt der ständigen Verwandlung. Das Leben ist ein Fluss, der unaufhaltsam voranströmt, und wir sind nur Treibgut auf seinen Wellen. Viele klammern sich an die Trümmer der Vergangenheit, bauen Festungen aus Erinnerungen und verschanzen sich hinter den Mauern ihrer Illusionen. Auch ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich mich nach der Beständigkeit des Vergangenen sehne, nach einer Zeit, die nur in meinem Kopf noch existiert.

Während ich diese Worte niederschreibe, frage ich mich: Ist nicht gerade diese Sehnsucht, dieses Festhalten an dem, was war, der eigentliche Grund für unser Umherirren? Vielleicht liegt die wahre Heimat nicht in einem bestimmten Ort, sondern in der Fähigkeit, den Wandel zu akzeptieren und uns selbst immer wieder neu zu erfinden.

Adieu

Und wieder verbrachten wir eine Nacht voller Tanz und Tollerei, und wir wussten genau, dass wir allein sein würden, wenn die heilige Stammkneipe zur Sperrstunde schließt.

In Erinnerung an: Karl Wiebe, Klaus Kosok, Rainer Bolik, Karl Klossok, Thomas Adler, Marlies Bergendahl, Jochen Muth, Harald Richter, Ralf Becker, Sunny Sandkühler, Norbert Kuhfuß, Andy, Martin und all die anderen, deren Namen mir gerade nicht einfallen. Eure Gesichter lachen mich immer noch an.

Udo Schucker

Fotos:
Annette Friedenstein
H-P Keller
Reimbern von Wedel-Parlow
Udo Schucker

*Wilfried Krix, Alt-Bottroper Kneipenlandschaft, Stardtarchiv 2007, Heft 7

Lesen Sie auch unseren Beitrag über „Schorsch“ und dem Stadt-Café: https://wat-gibbet.de/schorsch/

Oder wie aus dem Bottroper DJ Markus Lakenbrink DJ LaBrie wurde: https://wat-gibbet.de/markus-lakenbrink-dj-labrie/

Jetzt keinen Artikel mehr verpassen: abonnieren Sie unseren wat-gibbet-WhatsApp-Kanal!