The Windmills of Your Mind
Wie die Vietor-Mühle im Bottrop der 1990er Jahre zum Szenetreff wurde.
24. Dezember 2022. Ich spaziere mittags an der Mühle vorbei und stelle verblüfft fest, dass diese geöffnet hat. Eigentlich ist die Mühle ja seit Jahren geschlossen, kann aber für besondere Anlässe gemietet werden. In der Nacht zuvor hatte ich noch einen Traum, in dem ich mich auf einer der legendären Heiligabendpartys in der Mühle der 1990er Jahre wiederfand. Ich war als Weihnachtsmann verkleidet und versuchte auf die Theke zu klettern, um dort einen Stepptanz zu vollführen. Die anderen Gäste hielten mich aber davon ab, zogen mich kurz vor dem ersten Stepper immer wieder vom Tresen.
Ich erwachte gerädert aus diesem Sisyphus-Traum und spürte eine so heftige Sehnsucht nach dem Vergangenen, dass mir kurz das Atmen schwerfiel. Verdammt, Schwermut an Heiligabend, darauf hatte ich jetzt so gar keinen Bock. Erst mal raus aus der Bude.
Ich stehe also vor der Mühle, Fetzen meines Traumes flattern noch durch mein Gehirn. Ist das jetzt mein Weihnachtswunder? Ich trete ein und sehe zugleich ein paar Bekannte, die mich fröhlich begrüßen und zu einem Gläschen Wein einladen. Merci. Stößchen.
Die Tische im Wintergarten der Mühle sind weitgehend besetzt. Im Schankraum selbst ist es leer, bis auf unsere Gruppe. Ilhan Durdu („Corretto“) organisiert ja seit einiger Zeit Veranstaltungen in der Mühle. Er hatte eine Buchung für den Wintergarten und hat daraufhin kurzerhand den Schankraum in der alten Windmühle für alle geöffnet. Leider waren nur sehr wenige informiert und so bleibt der Kreis exklusiv. Ich sehe mich um und höre die Stimme von Rio Reiser. Die Bilder einer längst vergangenen Zeit fallen schlagartig über mich her.
In den 1990er Jahren war die „Mühle“ der Szenetreff in Bottrop und ein Jahrzehnt lang auch meine Stammkneipe. Wenn ich heute an die „Mühle“ denke, verbinde ich das oft mit einem Song von Rio Reiser: „Junimond“. Als Rio am 20. August 1996 verstarb, wurde sein Lied „Es ist vorbei, bye bye, Junimond …“ zur inoffiziellen Hymne der Gaststätte Mühle. Das gesamte Serviceteam ist seinerzeit mit diesem Song auf dem Bottroper Stadtfest aufgetreten. Damals waren die Stadtfeste noch etwas Besonderes, es gab insgesamt 5 Bühnen, eine davon auf der heutigen Gastromeile.
Es muss zur Karnevalszeit gewesen sein, als „Bye bye, Junimond …“ in der Mühle mal zwei Stunden nonstop gespielt wurde. Alle Gäste haben ohne Unterbrechung mitgesungen. Ich konnte danach 3 Tage nicht mehr sprechen. Geschäftsführerin Antje Döing hatte daraufhin Bartender Georg Louven verboten, diesen Song zu spielen, da einige Gäste dabei jedes Mal die Contenance verloren.
Die Vietor’sche Mühle von 1821 ist die älteste noch erhaltene Bottroper Windmühle. 1987 kaufte der Architekt und Gastronom Gunter Morscheck das baufällige Gemäuer von der Stadt, restaurierte es mit viel Aufwand und eröffnete im Dezember 1989 dort die Gaststätte „Mühle“. Übrigens, gegen den Widerstand der DKP und der Grünen, welche da noch GAL (Grüne Alternative Liste) hießen. Sie wollten, dass die Immobile im städtischen Besitz blieb und dort einen Kulturtreff mit Ausstellungsräumen etablieren.
Architekt Gunter Morscheck und sein Team, zu dem auch der Bottroper Grafiker und Maler Dieter Drewes gehörte, haben jedenfalls hervorragende Arbeit geleistet. Und so war es auch kein Wunder, dass die liebevoll restaurierte Mühle mit ihrem anschließenden Wintergarten schnell zum beliebten Szenetreff im Bottroper Nachtleben avancierte.
Im Zentrum des runden Backsteingemäuers befand sich das Herzstück der Kneipe: die hufeisenförmige Theke. Egal wo man stand oder saß, man hatte stets den Überblick und konnte in alle Richtungen nonverbal kommunizieren. Das Kommunikationskonzept war ideal für alle, die gerne flirteten. Was sich auch schnell herumsprach, und so kamen die Flirtwilligen aus Gladbeck, Essen oder Oberhausen. Leider hat man später im Zuge der Umstrukturierung die alte Theke entfernt, um flexibler auf Gesellschaften reagieren zu können.
Das zentralistische Thekenkonzept erwies sich auch als optimale Bühne für Bottrops beliebtesten Bartender Georg Louven, der als Chefzapfer Michael Hüttermann (Miller) 1991 ablöste. Schorsch, der heute das Stadtcafé betreibt, war für viele Stammgäste die gute Seele der Mühle. Und am Tag seines Weggangs, Ende der 1990er, soll ein tiefes Seufzen vom altehrwürdigen Gemäuer zu hören gewesen sein.
Legendär waren auch die Events und Motto-Partys, die Geschäftsführerin Antje Döing immer liebevoll in Szene gesetzt hatte. Ihr früher Tod im Jahr 2014 hat alle tief bestürzt.
Eines der jährlichen Highlights in der Mühle war Heiligabend. Erst Frühschoppen bis 15 Uhr und ab 22 Uhr Party. Weihnachten mit der Wahlverwandtschaft hat da noch richtig Spaß gemacht. Es war immer wie eine berauschende Familienfeier, die oft erst um sechs Uhr morgens endete. Und ja, ich hab auch häufiger auf der Theke getanzt.
In den 2000er Jahren wurde es dann ruhiger. Verschiedene Pächter versuchten ihr Glück, doch der Zenit schien vorerst überschritten und die Mühle versank nach und nach in eine Art Dornröschenschlaf. Man kann die Mühle zwar für Events mieten, der reguläre Kneipenbetrieb ist jedoch Geschichte. Aber es gibt Hoffnung für alle Nostalgiker, wie mir Ilhan Durdu verriet, könnte es in nächster Zeit doch wieder die eine oder andre Party in der Mühle geben. Viele der ehemaligen Stammgäste würden sich bestimmt sehr freuen und sofort antanzen.
Like a circle in a spiral, like a wheel within a wheel
Never ending or beginning on an ever spinning reel
As the images unwind, like the circles that you find
In the windmills of your mind!
Alan Bergman
Fotos und Text: Udo Schucker