Herr Blum geht Heimat-Shoppen und trifft Arafat

Der Wind blies Herrn Blum die Melone vom Kopf. Ein Erbstück, das sein Urgroßvater angeblich von den englischen Hutmachern Thomas und William Bowler erworben hatte. Leopold Blum konnte seine Kopfbedeckung noch so gerade abfangen, bevor sie in einer Pfütze landete. Das Wetter war wirklich scheußlich und hatte den Veranstaltern ihren Heimat-Shopping-Event gründlich verregnet. Die City war mit aufblasbaren drei, vier Meter hohen Leuchtsäulen dekoriert. Doch die Dunkelheit, die sich vor längerer Zeit über den Bottroper Einzelhandel gelegt hatte, ließ sich auch damit nicht erhellen.

An verschiedenen Punkten in der Innenstadt gab es Livemusik. Blum taten die Sänger und Sängerinnen fast leid, die tapfer gegen den Regen und die Tristesse musizierten. An einigen Standorten bildeten sich auch kleinere Menschenansammlungen. So z. B. am AK1 auf der Poststraße, auch bekannt als „Sylter Treff“, oder vor der Essensausgabe beim Metzger Scharun. Bei schönem Wetter wäre die Stadt sicher voller Menschen gewesen. Schade.

Herr Blum fand den Begriff Heimat-Shoppen ja eher antiquiert. Heimat kann ja alles Mögliche sein. Blum musste bei dem Wort immer an Heimat-Filme aus den 50er Jahren denken, wie „Die Fischerin vom Bodensee“, „Schwarzwaldmädel“ oder „Grün ist die Heide“. Blume stellte sich vor, wie die neue Bottroper Stadtsprecherin als Schwarzwaldmädel durch die „Kirchheller Heide“ tollt und Marketing für Bottrop macht. Ein attraktiver Gedanke, der Blum schmunzeln ließ.

Anstatt Heimat-Shoppen hätte man das Event Geister-Schoppen nennen sollen. Im Zentrum ein Zombie Walk durchs Death Valley des Bottroper Einzelhandels, der Hansastraße. Angeführt von einer New-Orleans-Jazzband, die Chopins Trauermarsch spielt. Dahinter dann vier Sargträger im Stresemann, die einen schwarzen Eichensarg mit der Aufschrift „Bottroper Einzelhandel“ tragen. Die Lichter in der Innenstadt sind ausgeschaltet.

Der Zug endet auf dem Rathausplatz. Hier wird der Sarg dem Oberbürgermeister quasi vor die Tür gelegt. Auf dem Rathausplatz findet anschließend ein Zombie-Rave statt. Die IG Rathausviertel spendiert allen einen Schoppen, 0,5 Literglas Bottroper Bier. Und Simone mixt in ihrer mobilen „kasBAR“ den berühmten „Zombie-Cocktail“. Ein Klassiker, der bereits 1931 Boris Karloff zum Frankenstein-Monster hat mutieren lassen. Immobilienentwickler Oliver Helmke präsentiert in einer abgefahrenen Lasershow holografisch sein Konzept zur Rettung des Karstadt-Gebäudes. Kombiniert mit einem Slogan, frei nach Johannes Kapitel 16: „Ihr habt nun Trauer, aber eure Trauer soll in Freude verwandelt werden.“

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Blum kam nicht umhin, sich für seine spontane Idee selber zu loben. Doch bevor er sich in seinem Eigenlob suhlen konnte, fuhr sein Alter Ego dazwischen. „Vergiss es. Wir sind in Bottrop.“ Plötzlich riss eine heftige Schallwelle Blum aus seinem inneren Dialog. Herr Blum stand vor Sebastian Brödels Musikgeschäft auf der Gastromeile. Die Schaufenster vibrierten. Im Ladeninneren coverten vier Rockmusiker den Song „Whole Lotta Love“.

Blum mochte das Stück von „Led Zeppelin“, obwohl er den Text als zu simpel empfand. Die Bässe versetzten Leopold Blums Hüften in Schwingung. Ein kurioser Anblick. Stellen Sie sich Alfred Hitchcock vor, der in seinem schwarzen Anzug mit einer Melone auf dem Kopf vor einem Schaufenster steht, rhythmisch mit den Hüften wackelt und passend dazu den Kopf vor und zurück bewegt, wie eine Schildkröte auf Speed. Weitere Passanten blieben vor Brödels Laden stehen. Zwei Kids begannen Luftgitarre zu spielen.

Eine chinesische Touristengruppe strömte aus der Gastwirtschaft „Hürter“ schräg gegenüber. Nachdem vor einiger Zeit ein paar Tausend Chinesen auf Facebook das „Hürter“ zur beliebtesten Kneipe in Bottrop gewählt hatten, galt die Gaststätte aus den 1950er Jahren unter Besuchern aus Fernost quasi als das „Neuschwanstein“ unter den historisch erhaltenden Ruhrpott-Kneipen. Der Antrag, als Weltkulturerbe in die Liste aufgenommen zu werden, wurde von der UNESCO-Kommission allerdings abgelehnt.

Die Chinesen entdecken den tanzenden „Alfred Hitchcock“ sofort, zückten ihre Smartphones und stürzten sich auf den überraschten Herrn Blum: „Mr Hitchcock, a photo please“! Während Deutsche, besonders jüngere, in Herrn Blum eher den gealterten, adipösen „Pan Tau“ sahen, erkannten Besucher aus Japan, China oder Korea in ihm sofort den Meister der Suspense. Herr Blum legte seine beste Hitchcock-Mine auf und genoss seinen Auftritt. „Xie xie, xie xie“. Die chinesischen Besucher bedankten sich vielmals. Blum mochte ihre höfliche Art und bedankte sich gleichfalls für die Aufmerksamkeit, die man ihm erwies.

Ein Feuerwehrwagen, der plötzlich an der Gastromeile hielt, zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Musikerin „Tenja“ kletterte aufs Dach ihres Musikrettungswagens und startete einen wirkungsvollen Soloauftritt. Die kleine Menschentraube, die sich mittlerweile vor Sebastian Brödels Musikgeschäft gebildet hatte, witterte eine neue Attraktion und pilgerte sofort dorthin. Blum blieb allein zurück. Die Musiker im Laden stimmten nun „All Along the Watchtower“ an, in der Jimi-Hendrix-Version. Blum liebte diesen Song.

„Irgendwie muss es hier doch einen Weg raus geben?“
„Sagte der Witzbold zum Dieb.“ Blum drehte sich zu der Stimme um, die gerade die erste Zeile des Songtextes zitiert hatte. „Arafat, alter Freund, lange nicht gesehen. Wie geht’s dir?“
„Irgendwie geht’s, bin jetzt Rentner. Hab 46 Beitragsjahre geschafft. Und du, siehst ja echt aus wie Hitchcock. Ich mein, schwarze Sakkos haste ja schon getragen, als wir uns kennenlernten.“
„Im alten Kolpinghaus, als Vanessa Redgrave nicht nach Bottrop kam, verdammt lang her“, sinnierte Blum. In Arafats Mantelkragen steckte eine kleine Anstecknadel, die die israelische und die palästinensische Flagge zeigte. Blume wies mit einem Nicken auf den Anstecker. „Hast du keine Angst vor Fanatikern, wenn die die Israel-Flagge sehen?“
„Einer muss ja Flagge zeigen. Im Erdoğan-Grill hab ich deswegen Hausverbot.“
„Deutsche, kauft nicht bei Antisemiten!“
„Ich geh’ jetzt zum Kurden-Imbiss, da hat der Döner wenigstens nicht so einen bitteren Beigeschmack.“
„Ja, is‘ schon schlimm geworden. Hast du noch Verwandte in Gaza?“
„Nein, nur entfernt, in Ramallah, im Westjordanland. Hab aber keinen Kontakt mehr. Wir sind ja Anfang der 1970er Jahr nach Deutschland gekommen. Davor haben wir als Palästinenser in Israel gelebt. Ich hatte dort eigentlich eine schöne Kindheit in den 60ern. Beirut war da noch das Paris des Nahen Ostens. Wir wohnten bei einem Kibbuz. Die Kibbuzniks hatten mit Religion aber nicht viel am Hut, waren eher wie eine Hippie-Kommune. Alle hatten viel Spaß. Es war friedlich. Meine erste Liebe war eine Israelin aus dem Nachbardorf, Rachel. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch heute, wie der Wind sich oben auf den Golanhöhen in ihrem langen schwarzen Haar verfing.“ Arafat wurde für einen Moment ganz still.
„Was ist passiert?“
„Der Sechstagekrieg ist passiert. Nasser ist passiert. Alte machtgeile Männer sind passiert. Die anstelle von Frieden nur Hass und Fanatismus gesät haben.“
„Genau wie heute, Ajatollah Chamenei, Nasrallah, Trump, Putin, Erdoğan, Xi Jinping, Lukaschenko, Kaczyński, Biden.“
Arafat unterbrach Blums Aufzählung: „Biden nicht, der ist nur alt.“
„Stimmt. – Und aus ‚Fridays for Future‘ wurde ‚Fightdays for Hamas’“.
„Die Menschen hören nach und nach damit auf, selber zu denken, überlassen das lieber einer App.“
„Weißt du, wovor es mich gruselt, dass Trump die nächste Wahl gewinnt, die Demokratie in Amerika fällt und Margaret Atwoods Dystopien, wie ‚Der Report der Magd‘, wahr werden.“
„Blum, ich hab aufgehört, nach vorne zu blicken, da lauern die Alpträume. Ich blick’ nur noch zurück, hab all diese wunderbaren Erinnerungen, die mir für meine restliche Zeit das Herz wärmen.
„Tja, die Zukunft verheißt gerade nichts Gutes.“
„Blum, alter Freund, ich muss weiter. War schön, dich zu sehen.“ Arafat klopfte Blum auf die Schulter und ging.
„Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder, solange es noch ein Morgen gibt!“
Arafat drehte sich kurz um: „Der Morgen stirbt ja bekanntlich nie.“
Leopold Blum schaute Arafat lange hinterher. Eine unstillbare Sehnsucht nach dem Vergangenen ergriff von ihm Besitz.

Der Platz vor der Tchibo-Filiale am Altmarkt 5 lag völlig im Dunklen. Hier waren wohl alle Lichter ausgegangen. Bis auf drei Musiker mit einem Kontrabass war der Platz menschenleer. Die Musiker spielen mit „Take Five“ von Dave Brubeck gegen die Dunkelheit und Leere an. Blum empfand Mitleid und warf einen Fünfer in den leeren Hut, der vor den Musikern am Boden lag.

Herr Blum machte zwei, drei Schritte rückwärts und stolperte über einen Pflasterstein, der etwas herausragte. Blum behielt zum Glück sein Gleichgewicht. Anscheinend hatte jemand versucht, den sogenannten Stolperstein des Künstlers „Gunter Demnig“ zu entfernen. Ein Stein, der an die Judenverfolgung und Opfer der Nazis erinnern soll. Blum knipste die Leuchte an seinem Smartphone an, bückte sich mit einem lauten Knacken in den Knien und las die Inschrift: Hier wohnte Chaim Szmul Brenner, Jg. 1897, ausgewiesen 1938 nach Polen. Ermordet am 23.12.1944 in Dachau.

Text und Fotos: Udo Schucker

Hier finden Sie eine Übersicht der „Stolpersteine“ in Bottrop: www.bottrop.de/kultur-und-bildung/stadt-_und_zeitgeschichte/stolpersteine/