Als Vanessa Redgrave nicht nach Bottrop kam :(

Wie 1974 Trotzkisten das alte Kolpinghaus bevölkerten und der Verfassungsschutz Joints verteilte

Donnerstag, 16 Uhr. Müßiggang. Ich hocke mit meinem alten Kumpel Reimbern in der Weinbar an der Gastromeile. Wir blicken durch die große Fensterfront, in der Erwartung, dass jemand vorbeigeht, dem wir zuwinken können. Die Gladbecker ist menschenleer. Doch dann schiebt sich von rechts Mühlen-Schorsch ins Bild. Er geht mit seinem vierbeinigen Bettvorleger Gassi. Schorsch sieht uns und winkt. Perfekt synchronisiert erheben sich unsere rechten Arme zu einem erhabenen Gruß, den selbst die Queen nicht besser hinbekommen hätte. Kaffeeklatsch mit rhythmischer Gymnastik und anschließender Weinprobe.

Reimbern kenne ich seit meinem sechsten Lebensjahr. Seine Herz-Jesu-Kindergang – er wohnte damals gegenüber der gleichnamigen Kirche ­­– hat seinerzeit die Blagen im gesamten Wohnblock terrorisiert, mich eingeschlossen. Als seine Eltern dann 2 Jahre später wegzogen, wurde es etwas ruhiger in der „Hood“. Und ich sollte Reimbern erst 1972 wiedersehen, im legendären Kolpinghaus.

Das Kolp

Ich war 15, in der Gewerkschaft aktiv und im zweiten Lehrjahr meiner Ausbildung zum Sanitärinstallateur. Mit ein paar Mitschülern aus der Berufsschule und der Unterstützung vom DGB, hier speziell von Kurt Schmitz, unserem späteren Bürgermeister, gründete ich eine Infogruppe für Lehrlinge in Bottrop. Besuchte regelmäßig Gewerkschaftsschulungen in Haltern oder Oer-Erkenschwick und drehte meinen ersten Super-8-Kurzspielfilm über eine Moped-Gang, den ich leider nie fertigstellen konnte. Der Leben präsentierte sich mir als ein großes Buffet, und ich wollte von jedem Teller kosten.

Es war auf einer DGB-Veranstaltung, als mich ein Psychologie-Student namens Ewald Rensing ansprach. Er wollte meine politische Arbeit unterstützen und mich mit ein paar Leuten bekanntmachen. Obwohl Ewald nur 7 Jahre älter war, kam er mir unglaublich alt vor. Und so war es dann auch eher seine Freundin Marion, die mich mit ihren braunen Augen hypnotisierte, und der ich wie ein Zombie ins für mich bis dato unbekannte Kolpinghaus folgte.

Ohne Erwartungen – Auftritt Polan Schluckski

Ich kann mich an meinen ersten Auftritt im Kolpinghaus noch gut erinnern. Aus der Musikbox stöhnten Jane Birkin und Serge Gainsbourg: „Je t’aime, je t’aime. Oh oui, je t’aime. Moi non plus.“
Die Kneipe war voll, die meisten Gäste auch. Ich sehe sie alle noch vor mir: Mutter (Lydia) Palke, die Wirtin. Kellnerin Sieglinde, Günter, der Oberkellner, Mcgill, der Mann mit dem Koffer, Balu, Blow, Schrott-Karl, Anarchisten-Otto, Billie the Kid, Kuhfi, die Zwillinge, den roten Theo, Schnutie, Rastelli, Vadder, Catweazle und all die andren. Die meisten Jungs hatten damals einen Spitznamen. Mir verpassten sie auch einen: Polan Schluckski. Nein, nicht deswegen, sondern wegen meiner Filmerei und Affinität zu Roman Polanskis Filmwerk.

Eigentlich war die Gaststätte im Kolpinghaus eine eher schmucklose Ruhrpott-Kneipe mit der typischen 50er-Jahre-Kneipeneinrichtung. Die Zeit war hier stehengeblieben. Beige- und Brauntöne dominierten das Interieur. Links neben dem Eingang stand die Musikbox. Rechts erstreckte sich eine am Ende abgerundete Theke über die gesamte Länge bis zur hinteren Wand. Dort stand ein Flipper. Ringsherum befanden sich holzgetäfelte Sitznischen mit harten, abgewetzten Bänken und schweren Eichentischen. In der Raummitte tummelten sich verkratzte Tische und Holzstühle, die flexibel angeordnet werden konnten. An einigen Tischen spielten die meist jugendlichen Gäste Doppelkopf oder Schach, an andren wurde lebhaft diskutiert.

An der hinteren Wand hing eine schwere Holzbüste von Adolf Kolping. Zwei Schwingtüren, die bei Veranstaltungen aufgeschlossen wurden, führten in die beiden großen Säle, die insgesamt bestimmt an die tausend Personen fassten. Dazu gab es noch zwei Gesellschaftszimmer, ein Foyer, das in den großen Flur überging, wo sich die opulente Garderobe befand und weitere Zugänge zu den Sälen, der Kegelbahn, dem Treppenhaus und natürlich zu den Toiletten.

In den oberen Stockwerken befanden sich schlichte, kostengünstige Gästezimmer, z. B. für Handwerksgesellen auf der Walz, in denen teilweise Dauergäste logierten, wie „Anarchischen-Otto“ oder „Eddy le Grand“.

Das „Kolp“ war bis zu seiner Schließung Ostern 1976 der Szenetreff. Schüler, Studenten und politische Aktivisten feierten hier gemeinsam mit Schützenbrüdern, Karnevalisten und der Kolpingfamilie. Das Kolpinghaus war „neutrales Gebiet“. Hier praktizierte man die alkoholisierte Koexistenz. Warum die eigentlich bürgerliche Gaststätte im Kolpinghaus Ende der 1960er Jahre zum Szenetreff in Bottrop avancierte, mag vielleicht an dem nur hundert Meter entfernten Jungengymnasium (Blumenstraße) gelegen haben, heute das Kulturzentrum. Damals verbrachten die Primaner ihre Pause lieber bei einem Bierchen im Kolpinghaus als auf dem Schulhof ihrer Penne.

Aber zurück zur schönen Marion und Ewald Rensing. Beide hielten Wort und stellten mich noch am selben Abend gut einem Dutzend Leuten vor. Die meisten davon Studenten aus dem linken Lager und alle ein paar Jährchen älter als ich. Vermutlich fanden sie einen jungen Proletarier, der Scheißhäuser montierte, Marx, Nietzsche und Kafka las, gewerkschaftlich aktiv war und dann auch noch Filme drehen wollte, recht unterhaltsam. Und so wurde ich schnell zu einem integralen Bestandteil der Kolpinghaus-Szene. Hier traf ich auch Reimbern wieder, mittlerweile rechtschaffender Student der Elektrotechnik. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft würde Humphrey Bogart sagen ;-)

Tja, über das alte Kolpinghaus könnte ich viele unterhaltsame Geschichten erzählen, heute konzentrieren wir uns jedoch auf die Story von Erwin Fischer und Vanessa Redgrave.

Das Herz schlägt links

In jenen Tagen schlug das Herz bei vielen Menschen im Pott noch anatomisch korrekt: links. So auch beim jungen Busfahrer Erwin Fischer, der wegen seines Outfits in der Kolpinghaus-Szene liebevoll Catweazle genannt wurde. Erwin glaubte daran, Trotzkist zu sein und engagierte sich entsprechend in der Bewegung. Sein Traum war es, ein europaweites Trotzkistentreffen in Bottrop zu organisieren, mit der britischen Schauspielerin und Oscargewinnerin Vanessa Redgrave als Hauptrednerin. Redgrave war Mitglied der trotzkistischen »Workers‘ Revolutionary Party«, machte mit Filmen wie »Blow Up« oder „Isadora“ Furore und war in den 70er Jahren eine Ikone der intellektuellen Jugend.

Ein Bierchen lüpfen mit Vanessa Redgrave

Bottrop war damals richtig rot. Die DKP holte hier fast 18 Prozent bei den Kommunalwahlen und die Genossen von der SPD bekundeten öffentlich: Mein Herz schlägt links. Woran sich Oskar Lafontaine dann gut 30 Jahre später erinnern sollte, als er nach einem passenden Titel für sein Buch suchte. In den 1970er Jahren tummelten sich im Kolpinghaus Kommunisten, Sozialisten, Trotzkisten, Leninisten, Maoisten, selbst ein Stalinist namens Tom torkelte regelmäßig durch die Kneipe. Alle wollten sich irgendwo einnisten. Ich selbst hatte in meiner frühen Jugend eine eher nihilistische Phase. Der gemeinsame Nenner: Wir waren alle Hedonisten. Kurzum, das genusssüchtige und politische Klima war gut, für ein großes Trotzkistentreffen in Bottrop. Und kein Ort war seinerzeit dafür besser geeignet, als das multifunktionale Kolpinghaus.

Und so kam es, dass der junge Busfahrer Erwin Fischer 1974, gemeinsam mit ein paar weiteren Genossen und Genossinnen, ein mehrtägiges Trotzkistentreffen in Bottrop organisierte. Erwin hatte Vanessa Redgrave einen Brief geschrieben und sie zu dem Treffen eingeladen.

Als Erwin uns davon erzählte, ratterte bei vielen sofort das Kopfkino los. Ein Drink mit Vanessa Redgrave im Kolpinghaus. Bei mir kam noch hinzu, dass »Blow Up«, mit Vanessa Redgrave in der weiblichen Hauptrolle, in jenen Tagen einer meiner Lieblingsfilme war. Es folgten zwei erwartungsvolle Wochen jugendlicher Schwärmerei, gepaart mit ein wenig kollektiver Hysterie.

Natürlich kam Vanessa Redgrave nicht nach Bottrop, dafür aber der Verfassungsschutz. Dieser freute sich sehr über die rappelvolle Veranstaltung mit all den Genossen im Kolpinghaus. Es gab Vorträge, Diskussionskreise, Liedermacher, viel Alkohol und feinsten „Nepal Temple Shit“. Später ging das Gerücht um, dass der Verfassungsschutz zahlreiche Bierchen spendiert haben soll und sogar Joints verteilte, um die meist männlichen Gäste gesprächiger zu machen.

Ich hatte mit den Leo-Trotzki-Fans eigentlich nichts am Hut. Deren Parolen und Agitationen interessierten mich eher wenig. Ich wollte nur Vanessa treffen. Und da sie nicht kam, saß ich an diesem Samstagabend frustriert bei Mutter Palke an der Theke und gab mir die Kante. An den weiteren Verlauf der Veranstaltung kann ich mich nicht mehr erinnern. Filmriss!

Ob Catweazles Geschichte mit Vanessa Redgrave wirklich stimmte, ich weiß es nicht. Aber immerhin brachte seine Story 1974 einige Teenager zwei Wochen lang zum Träumen, zum Hoffen. Und ist am Ende eine gute Geschichte nicht alles was zählt? Eine Geschichte, die selbst nach fast 50 Jahren noch bewegt.

Erwin Fischer ist leider vor ein paar Jahren verstorben, wir können ihn nicht mehr fragen. Nach der Schließung des Kolpinghauses 1976 haben wir nach und nach den Kontakt verloren. Wenn er Jahre später mit seinem Reisebus durch die Straßen Bottrops fuhr und mich zufällig sah, drückte er immer kurz auf die Hupe und winkte.

„Darf ich den Herrschaften noch etwas bringen?“, Sankt Martins sonore Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Draußen auf der Gastromeile marschieren Manni Süsselbeck und Igor Albanese an der Weinbar vorbei und winken uns zu. Berry und ich winken synchron zurück – aus der Vergangenheit.

Dank an Beatrix Schweizer für die tollen Fotos aus dem Archiv ihres Vaters.

Udo Schucker