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Herr Blum geht ins Museum Quadrat

Eröffnung der 49. Jahresausstellung Bottroper Künstler

Kein Kandinsky

„Mhm“, Blum stülpte nachdenklich seine Lippen, fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand seiner Melone, so, als wolle er prüfen, ob sich dort Staub angesammelt hatte, und formulierte in Gedanken eine Kunstkritik: „Dieses titellose Gemälde zeigt ein dynamisches Spiel aus Farben und Formen. Auf der Leinwand entfalten sich lebhafte Blautöne, die an rauschende Wasser erinnern, während warme Gelb- und Orangetöne wie Sonnenstrahlen durch die kühle Tiefe brechen. Geschwungene Linien und organische Formen scheinen in einem ständigen Fluss zu sein, als ob sie sich in einem Traum bewegen. Die Textur des Öls verleiht dem Werk eine haptische Qualität, die den Eindruck von Bewegung verstärkt. Inmitten des Chaos strahlt ein zarter Punkt in Weiß, der Hoffnung und Klarheit symbolisiert – ein Lichtblick in der unendlichen Weite der Emotionen.“

„Papperlapapp!“, Blum musste über seine Kunstkritik innerlich grinsen. Dieses abstrakte Gemälde ähnelte eher einem ausgeflippten Kardiogramm als einem Kandinsky. Blum fragte sich, womit der Künstler das Auswahlkomitee wohl in der Hand hatte, um mit diesem Werk in die 49. Jahresausstellung Bottroper Künstler zu gelangen.

Die meisten der 76 präsentierten Werke gefielen Leopold Blum gut, aber eben nicht alle. Insgesamt hatte die Jury – bestehend aus Andrea Swoboda, Harald Sieger, Rebecca Bujnowski, Monika Lioba Lang, Jochen Brunnhofer sowie Museumsdirektorin Linda Walther – für die 49. Jahresausstellung Arbeiten von 43 Künstlerinnen und Künstlern ausgewählt. Keine leichte Entscheidung, summa summarum wurden 319 Werke von 87 Personen eingereicht.

Von Arno Heinrich bis Linda Walther

Das Museumszentrum Quadrat im Bottroper Stadtgarten gehörte zu Leopold Blums Lieblingsorten. Schon in Kindertagen, als es das Quadrat noch nicht gab, hatte Blum oft mit seinen Freunden im alten Heimatmuseum Verstecken gespielt. 1961 wurde das ehemalige Wohnhaus des ersten Amtsgerichtsdirektors zum Heimatmuseum der Stadt Bottrop, mit Arno Heinrich als Museumsdirektor. 1976 markierte der Bau des „Museumszentrum Quadrat“ eine neue Ausrichtung. Die Moderne Galerie wurde eröffnet und das Heimatmuseum in das „Museum für Ur- und Ortsgeschichte“ umgewandelt, mit der neu erbauten Eiszeithalle.

1.000 Augen

Die Ausstellungseröffnung war wie immer sehr gut besucht. Kein Wunder, schließlich brachten die meisten der Auserwählten ein paar Freunde und Familienangehörige gleich mit. Auch zahlreiche Repräsentanten der Stadt und der Kulturszene tummelten sich unter den Besuchern. Blum hob kurz seine Melone, ein Erbstück, das sein Urgroßvater angeblich von den englischen Hutmachern Thomas und William Bowler erworben hatte, und begrüßte Bürgermeisterin Monika Budke, die gerade ein Pop-Art-Gemälde bewunderte. „Guten Tag, Frau Bürgermeisterin.“

„Hallo, Herr Blum. Oder sollte ich good afternoon Mister Hitchcock sagen?“

„As you wish, my dear“, antwortete Blum, der tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit mit Alfred Hitchcock aufwies und gelegentlich als Doppelgänger engagiert wurde. „Sie wissen ja, mehrere Persönlichkeiten zu besitzen, ist derzeit en vogue.“

„Sie sagen es. Ich denke auch darüber nach, mir ein oder zwei weitere zuzulegen. Kann mich aber nicht so recht entscheiden“, flachste Bürgermeisterin Budke.

Blum nickte: „Tja, die Auswahl ist groß. In Ihrem Fall könnte ich mir eine Person aus der Politik vorstellen. Rosa Luxemburg wurde ja leider schon von der Wagenknecht okkupiert.“

„Da würde meine Partei auch nicht mitmachen“, wandte Bürgermeisterin Budke sofort ein.

„Stimmt, die sind ja heutzutage alle so empfindlich.“

Cassius Clay

„Wie finden Sie übrigens hier den ‚Ali‘?“ Bürgermeisterin Budke zeigte mit ihrer Kinnspitze keck auf das Pop-Art-Gemälde des Künstlers Carsten Breuer, das den Boxer Muhammad Ali zeigte.

„Gefällt mir gut. Aber ich bevorzuge Cassius Clay. Muhammad Ali nannte er sich erst, nachdem er der ‚Nation of Islam‘ beigetreten war. Eine ideologische Bande, die 1965 Malcolm X ermordet hat. Wissen Sie, was ich an Cassius Clay am meisten bewundert habe? Dass er gegen alle Repressalien den Kriegsdienst in Vietnam verweigert hat und standhaft geblieben ist. Hat mich später dazu inspiriert, Zivildienst im Marienhospital Osterfeld zu leisten.“

„Interessant, mit diesem Kontext bekommt das Werk von Carsten Breuer gleich noch mehr Ausdruck. Ob der Künstler das auch so gesehen hat?“, fragte Bürgermeisterin Budke.

„Sie können ihn ja fragen, er steht da hinten gelangweilt in der Ecke.“

„Das mache ich. Bis später, Herr Blum.“

„Frau Bürgermeisterin“, Blum hob zur Verabschiedung wieder kurz seine Melone. Die Kopfbedeckung passte perfekt zu seinem maßgeschneiderten, schwarzen Anzug. Dazu trug er ein weißes Hemd von „OLYMP“, klassisch fit, und eine schwarze Seidenkrawatte von „Turnbull & Asser“.

Bottrops bekanntester Künstler – Martin Honert

Herr Blum dachte an die Anfänge der Jahresausstellung in den 1970er Jahren. Damals stellten viele Künstler und Künstlerinnen aus seiner alten Clique hier aus: Elke Denda, Fred Eifler Rossa, Gregor Kleinewilde oder Martin Honert. Was kaum jemand weiß: Professor Martin Honert ist Bottrops bekanntester und erfolgreichster aktiver Künstler auf dem internationalen Kunstparkett. Honert hatte eine Professur in Dresden und leitete dort über viele Jahre eine Meisterklasse. Er wird von der New Yorker Matthew Marks Galerie vertreten. Martin Honert, der am Windmühlenweg aufgewachsen ist, reflektiert in seinen Werken häufig seine Kindheit und Schulzeit im Bottrop der 1960er Jahre. Und begonnen hatte Honerts internationale Karriere vor fast 50 Jahren auf einer Jahresausstellung im Museumszentrum Quadrat.

Eigentlich sollte man Martin Honert, der auch zu den Gründungsmitgliedern des Bottroper Künstlerbundes gehört, im Quadrat eine eigene Ausstellung widmen. Zumindest sollte er als Ehrengast und Redner im nächsten Jahr zur 50. Jahresausstellung eingeladen werden, dachte Blum. Just in diesem Moment trat die Künstlerin Irmelin Sansen in Blums Blickfeld. Die Vorsitzende des Bottroper Künstlerbundes e.V. begrüßte Blum überschwänglich, woraufhin dieser wieder seine Melone leicht anhob und mit der ihm eigenen Contenance den Gruß erwiderte.

Frisches Blut für den Künstlerbund

„Frau Sansen, sehr erfreut, Sie zu sehen. Sind Sie auf der Suche nach frischem Blut für den Bottroper Künstlerbund?“, wollte Blum wissen.

„Rein privat. Aber darf ich Ihnen einen jungen Bottroper Künstler vorstellen, den Sohn des großen Klees?“ Der kleine Klee war bestimmt 2 Meter groß und lächelte Herrn Blum freundlich an. „Er stellt hier diese wunderbare Zeichnung aus“, lobte Frau Sansen die Arbeit des kleinen Klees über den grünen Klee hinaus, der bemerkenswerterweise nicht mit dem Künstler Paul Klee verwandt war.

Blum betrachtete das mit Graphit gezeichnete fotorealistische Porträt im DIN-A2-Format und war von der Akkuratesse der Zeichnung durchaus beeindruckt. Es war eines der wenigen Porträts dieser Ausstellung. Die dargestellte Person war Herrn Blum allerdings gänzlich unbekannt – vermutlich ein populärer Musiker oder Sportler. Blum wollte seine Unwissenheit aber nicht durch eine Frage preisgeben, nickte nur anerkennend und bemerkte: „Der große Klee scharwenzelt hier auch irgendwo herum.“

Spielfilmdreh im Quadrat

Blum setzte seinen Rundgang fort. Vor den Arbeiten der Künstlerin Angelika Schilling erkannte er den bekannten Bottroper Filmemacher „Polan Schluckski“, der gerade mit der Künstlerin Ulrike Int-Veen flirtete. Abgesehen von ein paar Kilogramm Übergewicht und dem leicht ergrauten Haar hatte sich Schluckski kaum verändert. Der Filmregisseur hatte in den 1980er Jahren einige Szenen für seinen Spielfilm „Die letzte Einstellung“ im Museumszentrum Quadrat gedreht. Blum hatte darin eine Statistenrolle. Für den Film hatte der Künstler Martin Honert das Filmplakat entworfen. Der Streifen, eine Mafiastory, war nur auf Sizilien ein Erfolg. Dort wurden auch einige Szenen auf Sizilianisch gedreht. In Deutschland wurde Schluckskis Film zerrissen und verschwand schnell in der Versenkung.

Außerirdische Besucher

Blum dachte an all die Menschen, die ihm im Laufe der Zeit in und um das Museum Quadrat begegnet waren: Maximilian Schell hatte ihm die Hand geschüttelt. Mit Erich von Däniken hatte er hier über außerirdische Besucher fabuliert. Andy Warhol hatte ihn auf den Stufen zum Quadrat angeflirtet. Gemeinsam mit der Schauspielerin Tana Schanzara hatte Blum bei einer Preisverleihung im Quadrat am Buffet nach Frikadellen gesucht und Witze gerissen. Und mit circa 8.000 weiteren Demonstranten hatte er 1983 im Stadtgarten gegen den späteren Präsidenten George W. Bush – damals noch Vize – bei dessen Besuch im Quadrat demonstriert.

Nur mit den Museumsleitern hatte Blum in der Vergangenheit so seine Probleme, aber wer hatte die nicht? Herr Blum war stolz auf sein Quadrat und die Josef-Albers-Galerie, die mit dem BDA Architekturpreis NRW ausgezeichnet wurde und nun offiziell zu den zehn schönsten Gebäuden in Nordrhein-Westfalen gehört.

Der Botschafter wartet

Blum schaute auf seine Armbanduhr. Zeit zu gehen. Der Botschafter Bosnien und Herzegowinas in Deutschland wartete kurz vorm Kino. Herr Blum hatte an diesem Tag noch einen Auftritt als Hitchcock-Imitator im Filmforum auf dem internationalen Bottroper Filmfestival „Bosnia-Herzegovina Looks Around Film Festival“.

Text und Fotos: Udo Schucker

Hinweis: Alle Dialoge sind natürlich rein fiktiv!

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