Grabräuber 87

Arno Heinrich und die Schippendales

Wann waren Sie das letzte Mal im Bottroper Museum für Ur- und Ortsgeschichte? Also bei mir ist das bestimmt an die 20 Jahre her. Ich mag das Museumszentrum Quadrat im Bottroper Stadtgarten sehr. Andy Warhol ist mir hier mal über den Weg gelaufen. Und 1984 habe ich im Albers-Museum eine Szene für meinen Spielfilm „Die letzte Einstellung“ gedreht. Ich besuche zwar regelmäßig Ausstellungen in der modernen Galerie, doch das Museum für Ur- und Ortsgeschichte lasse ich immer links liegen. Bis heute.

Ich sitze in der Eiszeithalle neben dem Skelett eines mächtigen Mammutbullen und muss an Arno Heinrich denken. Ohne seine Obsession für Fossilien wäre dieser gesamte Museumsbau vielleicht nie entstanden. Die Sammlung, die der ehemalige Museumsleiter und Autodidakt hier zusammengetragen hat, ist erstaunlich. Andere Museen beneiden uns darum. Und irgendwo im Archiv liegen sicher auch noch die Scherben einer circa 2000 Jahre alten Urne, die ich bei einer Ausgrabung mit Bottrops „Indiana Jones“ gefunden habe. Folgen Sie mir und ich erzähle Ihnen die Geschichte.

Sommer 1987

Semesterferien. Ich war mal wieder auf der Suche nach einem Studentenjob, als ich zufällig meinen Freund Thomas Korte traf, der gerade auf dem Weg zur Stadtverwaltung war, um sich für eine archäologische Ausgrabung in Bottrop zu bewerben. Klang interessant. Ich ging direkt mit und eine halbe Stunde später hatten wir beide einen studentischen Aushilfsjob als Maulwürfe bei einer Ausgrabung auf dem Donnerberg.

„Guten Morgen, Herr Harrer“

Am nächsten Morgen ging’s auf einem Feld am Südring los. In einem kleinen Bauwagen warteten schon die Schippen auf die insgesamt acht Studenten, die in den nächsten sechs Wochen auf dem abgesteckten Areal nach 2000 Jahre alten Urnengräbern suchen sollten. Als Arno Heinrich erschien, verwechselte ich ihn mit Heinrich Harrer. Fragen Sie mich nicht, warum. Schien er mir aber nicht übelzunehmen, ich hatte das Gefühl, es schmeichelte ihm sogar, mit diesem berühmten, aber umstrittenen Abenteurer und Bergsteiger verwechselt zu werden.

In Reih und Glied

Jeder bekam eine Schippe und eine kurze Einweisung. Wir sollten uns auf einer abgesteckten Fläche in einer Reihe nebeneinander aufstellen und sehr vorsichtig mit der Schaufel Erdschicht für Erdschicht abtragen. Sobald wir auf etwas stoßen, die Arbeit sofort einstellen und den Grabungsleiter Arno Heinrich rufen. So weit, so gut. In der Hoffnung auf eine archäologische Sensation, gingen wir voller Elan, Pardon, vorsichtig an die Arbeit. Der Donnerberg soll ja nach dem Germanischen Gott Donar (Thor) benannt sein. Und so wurden wir dann auch am zweiten Tag direkt von einem heftigen Gewitter vom Feld gejagt.

John Steinbeck lässt grüßen

Drei zermürbende Wochen später, der Frust wuchs. Bis auf eine alte Ölsardinendose, die scheinbar ihren Weg direkt von der Cannery Row in Monterey (Kalifornien) zum Donnerberg gefunden hatte, brachte unsere Suche nichts zu Tage. Arno Heinrich schaute morgens und nachmittags kurz vorbei und lies uns ansonsten in Ruhe graben. Die Konservendose entfachte unter uns Studenten immerhin eine Diskussion über John Steinbecks Roman „Die Straße der Ölsardinen“.

Wurden wir auf die Schippe genommen?

Mir kam der Verdacht, die ganze Aktion sei in Wirklichkeit ein psychologisches Experiment über monotone Arbeitsbedingungen und Frustrationsgrenzen. Und wir waren die Versuchskaninchen. Wir wurden unvorsichtiger, gruben schneller, veranstalteten Schubkarrenrennen und tranken sehr viel Bier. Der Film „Angel Heart“ mit Mickey Rourke und Robert De Niro in den Hauptrollen lief gerade im Kino und entflammte eine hitzige Diskussion unter uns „Schippendales“. Dann passierte es.

Die Vergangenheit kommt ans Licht

Ich rammte meine Schippe etwas zu heftig in den Boden und stieß endlich auf ein Relikt der ausgehenden Bronze- und jungen Eisenzeit. Leider beschädigte meine Schaufel dabei die Urne, die vielleicht seit über zweitausend Jahren friedlich am Donnerberg ruhte. Keiner hat’s gemerkt. Flink fügte ich die Scherben wieder zusammen, drückte noch etwas Lehmboden darüber und legte nur den oberen Rand frei. An diesem Tag machte ich Arno Heinrich sehr glücklich, aber auch die anderen „Schippendales“ tanzten vor Freude um den Schafft ihrer Schaufeln, nach drei monotonen Wochen endlich ein Fund! Und es sollte nicht der letzte bleiben. Insgesamt entdeckten wir in den 6 Wochen 3 Urnen und diverse Beigaben, falls mich meine Erinnerung nicht trübt.

Kein Friedhof für Kuscheltiere

Wie uns Arno Heinrich erklärte, wurde das Gebiet zwischen der Bergstraße in Bottrop und der Siepenstraße in Osterfeld von circa 1.000 bis 200 vor Christus als Bestattungsstätte genutzt. Die Entdeckung erster Urnengräber erfolgte bereits 1897, während der Anlegung des Westfriedhofs. Weitere Urnen wurden 1936 bei der Sandgrube Birkenfeld und beim Bau des Südrings gefunden. Wenn man die einzelnen ineinander gehenden Fundstellen als ein zusammenhängendes Gräberfeld betrachtet, entstand hier im Laufe von einigen Jahrhunderten ein Friedhof von etwa 2.800 m Länge und 800 m Breite.

Insgesamt sicherte Arno Heinrich zwischen 1973 und 1992 in Zusammenarbeit mit dem Westfälischen Museum für Archäologie durch Ausgrabungen circa 362 Knochen- und Urnengräber.

Arno Heinrich – Bottrops „Indiana Jones“

Auf der Suche nach Arbeit zieht der 1929 in Stettin geborene Arno Heinrich Anfang der Fünfziger Jahre nach Bottrop und arbeitet zunächst als Hauer in den Bergwerken Prosper und Rheinbaben. Ausgelöst durch Zufallsfunde, beginnt seine Grabungs- und Sammelleidenschaft. Fortan widmet sich Heinrich Fossilien aller Art. 1955 wird er von der Stadt als Hausmeister an der Körnerschule angestellt, wo er bereits seine Sammlung präsentieren kann. 1957 wird er dann zum „Pfleger für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer der Stadt Bottrop“ ernannt und übernimmt 1958 offiziell die Ausgrabungen in der Stadt. Er wird auch zu Ausgrabungen in Gladbeck berufen und findet dort 1958 das einzige, fast vollständig erhaltene Waldwisent-Skelett Europas. Und einige Jahre später in Haltern den größten aufgefundenen Schädel eines Mammutbullen mit vollständigen Stoßzähnen.

Heimatmuseum Bottrop

1961 wird das ehemalige Wohnhaus des ersten Amtsgerichtsdirektors zum Heimatmuseum der Stadt Bottrop, mit Arno Heinrich als Museumsdirektor. Aus dem Autodidakten Heinrich war ein Spezialist auf seinem Gebiet geworden. Das Bottroper Heimatmuseum entwickelte sich im ersten Jahrzehnt nach seiner Eröffnung schnell zu einer der bedeutendsten Sammlungen ur- und naturkundlicher Funde der Eiszeit in der Bundesrepublik Deutschland.

1976 markierte der Bau des „Museumszentrum Quadrat“ eine neue Ausrichtung. Die Moderne Galerie wurde eröffnet und das Heimatmuseum in das „Museum für Ur- und Ortsgeschichte“ umgewandelt, mit der neu erbauten Eiszeithalle. Als Arno Heinrich 1992 in den Ruhestand ging, war er fast vierzig Jahre lang für das Museum tätig und hatte sich in der Fachwelt einen Namen als Autor, Grabungs- und Museumsleiter sowie Fossilien- und Mineralienexperte gemacht.

Zwanzig Jahre später

2007 kam es noch einmal zu einer kurzen Zusammenarbeit von Arno Heinrich und mir. Gemeinsam mit Irmelin Sansen und Ferdi Fries realisierte ich im Auftrag der Stadt Bottrop und der „Historischen Gesellschaft“ eine interaktive Video-DVD mit dem Titel: „Bottrop, die Zukunft hat Vergangenheit“.

Für den frühgeschichtlichen Teil der DVD stellte uns Arno Heinrich, der in der „Historischen Gesellschaft“ noch sehr aktiv war, ein paar Daten zusammen. An unsere Ausgrabung von damals konnte er sich noch erinnern. Und so erzählte ich ihm von der versehentlich demolierten Urne und meiner anschließenden Vertuschungsaktion. Arno nickte wissend und seine sonst eher spröde Mimik spendierte mir ein breites Grinsen. Arno Heinrich verstarb 2009. Sein Wirken ist unvergessen und bleibt für immer ein Teil unserer Stadtgeschichte.

Udo Schucker

Dieser Artikel ist Heiko Kubenka gewidmet. Ich lernte ihn 1987 bei der Ausgrabung kennen und wir waren bis zu seinem Tod befreundet. Heiko hat das Foto geschossen: „Arno Heinrich und die Schippendales“. Ich bin übrigens der Zweite von rechts. 

Dank an Beatrix Schweizer für die tollen Arno-Heinrich-Fotos aus dem Archiv ihres Vaters.

Als Quelle für die zeitlichen Daten diente die Website vom Quadrat Bottrop und der Wikipedia-Eintrag zu Arno Heinrich.