Angst über der Stadt

Gewalt in Bottrop

2 Uhr nachts. Ich beschließe meinen Heimweg abzukürzen und gehe durch den Bottroper Ehrenpark. Keine gute Idee. Ein voller Mond grinst mich durch die aufgebrochene Wolkendecke böse an. In den Wohnhäusern, die den Park säumen, brennt nirgendwo mehr Licht. Die Menschen schlafen oder sparen Strom. Es ist still. Nur der Wind rauscht in den Büschen und Bäumen. Ich muss an einen Film von Michelangelo Antonioni denken: „Blow Up“. Dort findet der Hauptdarsteller nachts im Park eine Leiche hinter einem Busch. Akustisch wird die Szene nur vom Rauschen des Windes begleitet.

Die Leiche im Ehrenpark

Der Mond verschleiert sein Antlitz wieder hinter einer Wolke. Ich nehme Bewegungen wahr, wo vermutlich gar keine sind. Auch ich habe ich hier mal eine Leiche gefunden. Nein, nicht gefunden, nur gesehen. Eine junge Frau lag tot in der Senke vor dem alten Ehrenmal. Eine Beziehungstat. Der Täter wurde noch am nächsten Tag festgenommen: Es war der Freund, er hatte seine Partnerin in einem Anfall von Eifersucht getötet. Das muss so Anfang der 1970er Jahre gewesen sein. Der Mörder war übrigens Deutscher.

Ich kann mich an den Anblick der Leiche noch sehr gut erinnern. Erspare euch aber die Details. Das klotzige Ehrenmal wurde mittlerweile demontiert und die Senke aufgeschüttet.

Als Kinder, in den 1960er Jahren, haben wir oft auf der großen, gut gepflegten Rasenfläche im Park Fußball gespielt. Das war eigentlich verboten. Und so versuchte die Polizei uns auch mehrfach in die „Grüne Minna“ zu bugsieren. Ist ihnen aber nie gelungen. Der Park bot zu jener Zeit sehr gute Verstecke und das „Fangenspielen“ war bei uns Kindern sehr beliebt, bei den Polizisten eher weniger. Unsere Eltern haben sich dann auch beschwert, man solle endlich aufhören, friedlich spielende Kinder zu belästigen. Es heißt ja immer, die Jugend von heute hätte keinen Respekt mehr; den hatten wir auch nicht. Der einzige Unterschied, wir waren nicht aggressiv und blieben höflich.

Schon damals hatte die Trinkerszene eine Ecke des Parks für sich okkupiert. Uns Kinder störte das nicht. Und die Gewalt in der eher kleinen Gruppe eskalierte nur intern. Von Büschen abgeschirmt, für die breite Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar, erregte die Gruppe so nur wenig Aufmerksamkeit, ganz im Gegensatz zu heute, wo sich die Trinker- und Drogenszene, mittlerweile verdreifacht, vor dem Kaufland tummelt.

Anzeige

Die Furcht wächst

Die Wolkendecke reißt wieder kurz auf und das fahle Mondlicht skizziert die Silhouetten von drei Personen, die am Ende meines Weges lungern. Adrenalin schießt durch meinen Körper. Ich muss sofort an all die Zeitungsartikel über arabische Jugendbanden denken, die Raubüberfälle begehen und Leute abstechen. Lauerten dort vielleicht die debilen Sprösslinge eines arabischen Familien-Clans auf mich, um sich die ersten Sporen für ihre Verbrecherlaufbahn zu verdienen? Der Preis ist heiß und der Preis bin ich!

Furcht krallt meine Fußgelenke. Ich reiße mich los und flüchte mit der Angst im Nacken querfeldein zur Brauerstraße, wechsle direkt die Straßenseite und lege eine sehr schnelle Gangart ein, die mich schon nach 100 Metern aus der Puste bringt. Ich dreh mich um, niemand folgt mir. Glück gehabt oder doch nur meine Fantasie?

Dann sehe ich ein paar Jugendliche, die am Berliner Platz auf der Treppe zum ZOB hocken. Keine Polizei in Sicht. Scheiße. Hoffentlich haben die mich noch nicht gesehen. Bloß keinen Jagdinstinkt wecken. Langsam bewegen.

Die Gewalt war schon immer da

Die Berichte in den Zeitungen machen wenig Mut, heil nach Hause zu kommen. Ein türkischer Taxifahrer erzählte mir letztens, dass er nachts Schiss hat, am ZOB auf Fahrgäste zu warten und schimpfte auf die Libanesen. Ein libanesischer Historiker, mit dem ich befreundet bin, sagte scherzhaft zu mir: „Früher standen die Osmanen vor Wien, heute stehen sie am ZOB. Erdogans fünfte Kolonne.“

Busfahrer steigen nachts am Zentralen Omnibus-Bahnhof nicht mehr aus. Messerstechereien zwischen türkisch-arabischen Jungendbanden auf der Kirmes. Karussellbesitzer wurden bedroht. Leute am ZOB ausgeraubt. In meinem Bekanntenkreis trauen sich viele nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr in die Stadt. Angst macht sich breit, das subjektive Sicherheitsempfinden ist bei einigen auf dem Nullpunkt. Da machen auch sporadische Einsätze der Polizei nichts mehr wett. Warum gibt’s eigentlich keine Überwachungskameras auf solchen Plätzen?

Gab es früher wirklich weniger Gewalt?

Schwer zu sagen. Zumindest gab es weniger Öffentlichkeit. Und die meisten Migranten waren beehrte Arbeitskräfte in der Montanindustrie, hatten sofort einen Job und waren keine Belastung für unser Sozialsystem. Das ist heute sicher anders.

Als Kinder waren wir auch in Jugendbanden organisiert, aber nicht kriminell. Prügeleien gehörten zum Alltag, mal mit Boxhandschuhen, mal mit blanken Fäusten. Wir haben uns mit Steinschleudern beschossen, mit Molotov-Cocktails beworfen oder mit Knüppeln behackt. Der einzige Unterschied, wenn jemand auf dem Boden lag, hat keiner mehr nachgetreten, zumindest nicht bei uns Kindern. Schließlich waren wir damals alle Karl-May-Leser und von Winnetous Edelmut infiziert. Na ja, änderte sich dann auch im Laufe der Pubertät.

Die Ebel hieß im Volksmund „Tal der fliegenden Messer“ und die Welheimer galten als besonders brutal. Die Batenbrock-Bande hatte mich mal mehrfach durch die Stadt gejagt, nur weil ich zuvor einen der Ihren bei einem Boxkampf besiegt hatte. Jugendliche wurden von Jugendbanden auf Volksfesten ausgeraubt. Und die Fiedler-Zwillinge mit ihrer Entourage verpassten mir regelmäßig Ohrfeigen, weil ich keine Zigaretten hatte. Die Prozedur endete immer mit den Worten: „Beim nächsten Mal bist du Raucher.“ Ich hatte allerdings nicht vor, wegen dieser Kray-Zwillinge* für Arme, mit 13 Jahren zum Raucher zu werden.

Meine erste Messerattacke erlebte ich dann mit sechzehn, nachts auf der unteren Hochstraße. Einer von den „brutalen Welheimern“ (Ende 20, langes, ungepflegtes dunkles Haar, Zuhälter-Bart, ca. 185 groß, muskulöse Statur) wollte meine Armbanduhr. Ich war allerdings nicht gewillt, sie ihm zu überlassen. Daraufhin ging er mit einem Fahrtenmesser auf mich los. Der Regen hatte gerade nachgelassen und in meiner rechten Hand lag ein Automatikschirm. Als der Typ das Messer in meine Richtung stieß, drückte ich den roten Knopf. Mein Schirm sprang auf und „Mecki Messer“ spießte meinen aufgepoppten Regenschirm mit seinem Arm auf, was ihn total verwirrte. Ich nutze die Gelegenheit und machte mich schnell vom Acker. Ihr wollt jetzt sicher wissen, woher ich wusste, dass der Messerstecher aus Welheim kam? Ganz einfach, nur Welheimer trugen damals Hufeisenbärte. 😉

Die Älteren werden sich erinnern: Ob Afrikaner, Stamm, Studio B, Bistro-Piccadilly oder Gambrinus Keller, Schlägereien waren in diesen Gaststätten teilweise an der Tagesordnung, manchmal auch Messerstechereien. In den 90ern wurde ein Freund von mir auf der Gladbecker Straße brutal von hinten mit einem Stein niedergeschlagen, nachdem er um 5 Uhr morgens aus der „Trappe“ kam. Er verbrachte Wochen im Krankenhaus und Monate in der Reha. Die Täter wurden nie gefasst. Die Gewalt war immer da. Sie hat nur ihr Gesicht verändert. Vor 90 Jahren trugen Jugendbanden noch eine braune Uniform, haben zunächst Bücher verbrannt und dann Menschen. Keine Frage, wir haben ein Problem. Und ich gerade auch!

Prey!

Die Jugendlichen vom Berliner Platz sind die Stufen zum ZOB hochgestiegen und haben mich gewittert. Beute! Ich reiße mich aus meinen Gedanken und renne los. Drehe mich nicht um. Renne und renne. Am Rathaus kommen mir grölend drei sturzbesoffene Fußballfans entgegen: „Schaaaaaaaalllllk…“ Ich bin nicht zu bremsen. Eine Bierflasche fliegt in meine Richtung. Als ich die Haustür erreiche, bin ich so aufgedreht, dass meine Hand zittert. Vier Versuche, der Schlüssel schnappt ins Schloss. Ich schlage die Haustür hinter mir zu. Gerettet. Ich atme schwer. Meine Smartwatch beginnt zu piepen. Mein Puls ist viel zu hoch. Langsam durchatmen. Ich drehe mich um, schalte das Flurlicht an und erstarre.

Eine riesige Nosferatu-Spinne krabbelt auch mich zu. Ich hab von meiner Furcht die Schnauze voll, springe hoch und zermalme das Tier mit meinem gesamten Übergewicht. Ich trete zu, trete und trete und trete. Ramme meine Absätze immer wieder auf den nun völlig zermatschten Körper der armen Spinne. Doch die Woge der Gewalt, die mich erfasst, ist nicht mehr zu bremsen. „I’m singin‘ in the rain.“ Meine Schuhe kann ich danach wegwerfen. „A Clockwork Orange“. Habt keine Angst. Wir schaffen das!

Udo Schucker

*Die Kray-Zwillinge waren britische Verbrecher, die in den 1950er und 1960er Jahren die organisierte  Kriminalität im Londoner East End beherrschten und so einen zweifelhaften Ruhm erlangten.