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„em pom pie“ – eine ART-Kneipe

Erinnerungen an Bottrops ehemalige Künstlerkneipe der späten 1980er Jahre

Lee Marvin gab mir einen Rat: „Kleiner, du musst in jungen Jahren möglichst viele Erinnerungen produzieren, damit du im Alter etwas hast, das dein Herz wärmt.“ Seine eiskalten Augen fixierten mich von der Leinwand eines heruntergekommenen Bottroper Kinos namens „Capitol“. Ich war an diesem Nachmittag der einzige Kinobesucher. Ich war 14 Jahre alt und hatte fortan eine Mission.

Einige dieser herzerwärmenden Erinnerungen spielten sich in der Kulturkneipe des Bottroper Malerfürsten Reinhard Wieczorek und dessen Bruder Jojo ab. Die romantischen Momente klammern wir diesmal aus. Stattdessen blicke ich mit dem sezierenden Blick eines nüchternen Chronisten zurück auf eine Epoche, die mit dem Mauerfall endete.

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre veränderte sich die Bottroper Kneipenlandschaft. Die Bistro-Piccadilly-Ära ging zu Ende. Das Studio B schloss für immer die Pforten, ebenso die Diskothek „La Trevi“. Die Betreiber des „Uhlenspiegels“ an der unteren Hochstraße eröffneten in Oberhausen den „Music Circus“ und zogen sich peu à peu aus Bottrop zurück.

In dieser Phase des Umbruchs eröffneten der bekannte Bottroper Künstler Reinhard Wieczorek gemeinsam mit seinem Bruder Jojo und einem gewissen Peter C. – der aber für diese Geschichte uninteressant ist – eine neue Künstlerkneipe. Sie benannten ihre Kneipe nach einem traditionellen Kinder-Klatschspiel: „em pom pie“. Es war, als hätten die Brüder mit dem Namen einen geheimen Zauberspruch gefunden, der die Tür zu einer neuen ART-Kneipe öffnete.

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The House of the Rising Sun

Das „em pom pie“ befand sich an der Essener Straße 62, im ehemaligen Gasthaus des Zimmermeisters Heinrich Jäger, das in den Chroniken der Stadt erstmals 1893 erwähnt wird. 1923 wurde das Gasthaus dann von Emil Ullrich in eine Schankwirtschaft umgewandelt.* Bevor Reinhard Wieczorek und sein Bruder Jojo die Gaststätte 1985 übernahmen, stand die Kneipe längere Zeit leer.

Die Essener Straße erlebte eine Renaissance des Nachtlebens, nachdem Arno Rohde und Peter Prudlo ein Jahr zuvor das „por qué no“ an der Hausnummer 32 ins Leben riefen. Wie Magnete zogen die beiden Kneipen die nächtlichen Schwärmer an, und dazwischen, wie ein pulsierendes Herz der Vergnügungen, thronte das berüchtigte Freudenhaus „Pension Gabi“, von Eingeweihten auch als „The House of the Rising Sun“ bezeichnet. Diese Trias aus Vergnügungsstätten verwandelte die Essener Straße für ein paar Jahre in eine Achse des Bottroper Nachtlebens.

Das „em pom pie“ etablierte sich rasch als Magnet für die kreative Szene, ein Treffpunkt, der Künstler und Studenten gleichermaßen anzog. In seinen Räumen fand der aufstrebende Kabarettist Dieter Nuhr, heute bekannt für seine scharfzüngigen politischen Kommentare, eine erste Plattform für seine bildnerischen Werke. Die „Misfits“ und viele andere Kleinkünstler traten hier auf. Auch Gastronomie-Legende Reimbern von Wedel-Parlow stand hier bei besonderen Anlässen manchmal am Zapfhahn.

3.000 Jahre Pommes

Es gab fast ununterbrochen Kunstausstellungen. Auch der Bottroper Kulturrat erblickte hier nach zahlreichen Alkoholexzessen und zermürbenden Diskussionen das Licht der Welt. Legendär war auch die Kunstausstellung „3.000 Jahre Pommes“, an der sich zahlreiche Künstler beteiligten. Der WDR berichtete darüber, und Irmelin Sansens Gemälde vom letzten Pommes-Abendmahl, in Anlehnung an Leonardo da Vincis Meisterwerk, landete sogar im Museum. Der Bottroper Musiker und DJ Toni Gassen schrieb dazu den Pommes-Song und Ferdi Fries drehte ein VHS-Video.

Klo-Kino

Ich hatte damals eine vierwöchige Schaffenskrise und fand meine Filme alle beschissen, was ich dadurch zum Ausdruck brachte, dass ich im „em pom pie“ gemeinsam mit Ferdinand Fries das erste Scheißhauskino Deutschlands eröffnete und meine Filme einige Tage auf dem Klo vorführte. Ferdi hatte dort überall Monitore montiert. Die Wieczorek-Brüder waren von der Idee begeistert, erkannten sofort den Happening-Charakter der Aktion und ließen uns freie Hand. Laudator Klaus Pöll hielt eine sehr emotionale Eröffnungsrede, in der er meine Werke noch einmal so richtig durch den Kakao zog.

Haute Cuisine

Das „em pom pie“ entwickelte sich damals auch zu einem sehr beliebten Kneipen-Restaurant. Besonders begehrt waren die leckeren und preisgünstigen Pizzakreationen. Neben den Wieczorek-Brüdern und Irmelin Sansen hantierten in der Küche auch weitere Kunstschaffende, die die hungrigen Gäste allabendlich mit Pizza, Pasta und weiteren Gerichten verwöhnten.

Einmal in der Woche gab es den Gourmet-Dienstag. Reinhard Wieczorek ist nicht nur ein begnadeter Maler, er und sein Bruder entpuppten sich auch als wahre Kochkünstler. Am „Gourmet-Dienstag“ verwöhnten er und das Küchenteam die Gäste häufig mit einem 3-Gänge-Menü der gehobenen Kochkunst. Die Erinnerung an den exzellent zubereiteten Lammrücken lässt auch heute noch meine Geschmacksknospen erblühen.

Donnerstag, 9. November 1989

Ich saß an der Theke des „em pom pie“, den Ellbogen auf das abgewetzte Holz gestützt, ein Glas Bourbon vor mir. Neben mir hockte mein Freund „Wacker“, sein Gesicht erinnerte an eine zerknitterte Landkarte. Wir redeten über Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ und den Prager Frühling.

Die Tür flog auf, als hätte sie jemand getreten. Jochen Muth stolperte herein, seine Augen wild wie die eines aufgescheuchten Hasen. „Der ‚Antifaschistische Schutzwall‘ ist gefallen. Die Grenzen der DDR sind offen!“

Wacker drehte sich langsam um, sein Gesicht eine Maske aus Zynismus. „Scheiße“, krächzte er, seine Stimme rau wie Sandpapier. „Jetzt kommen die alle rüber.“
Ich nahm einen Schluck von dem Bourbon. Er schmeckte nach verpassten Chancen. Draußen heulte eine Sirene.

Ein neues Jahrzehnt

In den 1990er Jahren veränderte sich die Bottroper Kneipenszene erneut. Das „em pom pie“ hatte seinen Zenit überschritten. Es gab noch eine Dependance in Bottrop-Kirchhellen, in der ehemaligen Gaststätte „Schulte-Wieschen“, doch das Konzept konnte hier nicht punkten.

Die Wieczoreks zogen sich aus dem Geschäft zurück. Unter der neuen Leitung versank die Kneipe schließlich in der Bedeutungslosigkeit. Das „em pom pie“ trudelte abwärts wie ein Herbstblatt im Novemberregen.

Am Ende des Jahrzehnts, als die Welt sich anschickte, in ein neues Millennium zu gleiten, war das „em pom pie“ nur noch eine Fußnote in der Geschichte. Das Kneipenkonzept der Brüder Wieczorek sollte jedoch eine Auferstehung erleben, als Reimbern von Wedel-Parlow 2004 das „Passmanns“ eröffnete.

Udo Schucker

Lesen Sie dazu auch:
https://wat-gibbet.de/kulturkneipe-passmanns-bottrop/

https://wat-gibbet.de/bistro-piccadilly-bottrop/

https://wat-gibbet.de/vanessa-redgrave-bottrop-kolpinghaus/

*Wilfried Krix, Alt-Bottroper Kneipenlandschaft, Stardtarchiv 2007, Heft 7

Fotos zur Verfügung gestellt von Reimbern von Wedel-Parlow und Eva Baskan

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