Smog on the Gastro-Mile

Herr Blum geht aus und klärt die letzte Generation über den Weihnachtsmann auf.

Herr Blum war satt. Er saß am späten Nachmittag allein an einem Tisch im Restaurant „Bodega“ und hatte 3 Terrinen mit spanischem Gulasch verputzt. Keine Frage, der Spanier servierte das beste Gulasch im Pott. Leopold Blums Wampe brummte zufrieden und die drei Gläser Rioja, die er zum Essen getrunken hatte, versetzten ihn in eine selige Weihnachtsstimmung.

Manni, der Patron, kam an Blums Tisch und fragte: „Wie wär’s mit einem Glas „Gran Duque d’Alba Oro“ als Digestif? Allerfeinster Brandy, nur für so gutgekleidete Stammgäste wie Sie, Herr Hitchcock.“

Herr Blum fühlte sich geschmeichelt und kam der Offerte des Patrons gerne nach. Leo Blum trug, wie immer, einen maßgeschneiderten, schwarzen Anzug, dazu ein weißes Hemd von „OLYMP“, klassisch fit, und eine schwarze Seidenkrawatte von „Turnbull & Asser“. Herr Blum hatte Stil, keine Frage. Und er besaß eine frappierende Ähnlichkeit mit Alfred Hitchcock, hatte diesbezüglich sogar ein Angebot von einer Doppelgänger-Agentur erhalten, welches er aber abgelehnt hatte, obwohl …

Herr Blum genoss seinen Brandy, zahlte seine Zeche und gab ein üppiges Trinkgeld. Blum schlüpfte in seinen schwarzen, einreihigen „Kei-Mantel“ aus Wolle und Kaschmir, den ihm der Gastronom behilflich entgegenhielt, und setzte seine geliebte Melone auf, ein Erbstück, das sein Urgroßvater angeblich von den englischen Hutmachern Thomas und William Bowler erworben hatte.

Herr Blum trat in die Kälte hinaus und war sofort benebelt. Nein, das waren nicht „die Nebel von Avalon“ oder der Alkohol. Es war einfach nur Smog. Die Gastromeile war in ein feuchtes Dunkelgrau getüncht, das sich auch gleich auf die Atemwege legte. Blum musste an den legendären Film von 1973 über eine fiktive Smogkatastrophe im Ruhrgebiet denken: SMOG.

Wolfgang Petersen führte damals Regie. Viele Zuschauer hielten die Pseudo-Doku für real und riefen während der Ausstrahlung besorgt beim WDR an.

Ein paar Jahre später wurde die Fiktion zur Realität, Smogalarm im Ruhrgebiet. Freitagnachmittag, 18. Januar 1985: In großen Teilen des Ruhrgebiets durfte kein Auto mehr fahren, Industriebetriebe mussten ihre Produktion einstellen und der Schulunterricht fiel aus. Bottrop gehörte damals zu den Städten, die besonders betroffen waren. Und auch fast 40 Jahre später droht wieder Fahrverbot. Besonders an stark befahrenen Straßen sind die Feinstaubwerte immer noch viel zu hoch.

Leopold Blums schwarze Kleidung verschmolz mit dem Dunkelgrau des Abends. Er schlenderte fast unsichtbar über die Gastromeile, als plötzlich eine junge Dame aus dem Grau vor ihm auftauchte. Sie trug ein Plakat mit der Aufschrift: Der Weihnachtsmann ist tot. Es lebe die Weihnachtsfrau. Wir sind die letzte Generation.
„Tschuldigung, können Sie mir sagen, wo der Weihnachtsmarkt ist, ich bin nicht von hier?“, fragte die letzte Generation.

Herr Blum hatte schon von der letzten Generation gehört, war aber bisher noch keinem Exemplar begegnet. „Eine Straße weiter, am Rathausplatz, dort finden Sie die ganzen Weihnachtsmänner“, antwortete Blum, der Weihnachten hasste und fügte hinzu: „Apropos Weihnachtsmann – verehrtes Fräulein, Sie wissen schon, dass der Weihnachtsmann gar nicht existiert. Der ist eine Erfindung von Coca-Cola. Traditionell gibt es bei uns das Christkind. Meistens dargestellt von einer jungen Frau mit Goldlocken im weißen Gewand und als Neutrum dekliniert.“

Herr Blum hatte seinen letzten Satz gerade beendet, da war ihm klar, dass er einen großen Fehler gemacht hat. Leopold Blum hatte sich nicht nur als Besserwisser in Szene gesetzt, nein, schlimmer noch, er hatte ein Wort aus dem letzten Jahrhundert verwendet, das friedliebende, junge Aktivistinnen in Furien verwandeln konnte: Fräulein!

Die letzte Generation schleuderte ihr Plakat zu Boden und mutierte von einer netten jungen Dame zu einer Art „Benito Mussolini“. Schrie, wild gestikulierend, Hasstiraden ins Gesicht von Herrn Blum, auf deren Wiederholung wir hier besser verzichten. Dann zog sie blitzschnell eine Tube mit Sekundenkleber aus der Tasche, verteilte den Inhalt auf ihre Handfläche und holte aus, um Herrn Blum eine Ohrfeige zu verpassen.

Zeitlupe an:
Herr Blum sah die Ohrfeige kommen. Er musste just in diesem Moment an Beate Klarsfeld denken, die 1968 Bundeskanzler und Ex-NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger (CDU) für seine Verstrickung in Naziverbrechen ohrfeigte. Und deren Aktion Herr Blum noch heute sehr bewunderte.
Zeitlupe aus.

Leo Blum wich der heran sausenden Handfläche geschickt durch eine leichte Hüftdrehung aus. Und die Ohrfeige traf einen jungen Mann, der zufällig gerade vorbeiging und nun die Hand der letzten Generation an der Backe kleben hatte. Doch, oh Weihnachtswunder, genau in diesem Augenblick schoss Gott Amour einen Pfeil ab, der die Herzen der jungen Leute mit voller Wucht traf. Die Zeit stand für die Beiden plötzlich still. Tja, auf die alten Götter war manchmal eben doch noch verlass.

Herr Blum verstand nichts von der Liebe auf den ersten Blick, er spürte aber, dass hier gerade etwas geschah, das sich seiner Logik entzog. Eigentlich hätte man diese Szene mit schwülstigen Geigenklängen unterstreichen müssen, doch die tiefen Bässe, die da an Leo Blums Ohren drangen, gehörten zu einem Klassiker der Rockband „Deep Purple“. In Sebastian Brödels neuem Musikladen, ein paar Meter weiter, lief wohl gerade eine Verkaufs-Session, vermutete Herr Blum. Jemand sang: „SMOG On The Water …“

Frohen 4. Advent.

Udo Schucker

Mehr zu Leopold Blum findet ihr hier: https://wat-gibbet.de/artvent-2022-bottrop/