Von Claudia Roosen, 14.10.2024, 09:37, Lesedauer: 8 Minuten

Die Demokraten auf der Zielgraden – mit Trumps Atem im Nacken

Wer gewinnt das Duell um Amerika? Kamala Harris vor der alles entscheidenden Schlacht

Hier ist ein kleiner Tipp, um die nächsten Wochen bis zum Wahltag ruhiger zu überstehen: Einfach die Umfragen ignorieren. Wer kein Kampagnenprofi oder Glücksspieler ist, schaut wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie alle anderen auf die Umfragen: um zu erfahren, wer gewinnen wird – oder zumindest mehr Sicherheit zu haben. Doch genau diese verleihen die Umfragen nicht. 

Am Wahltag 2016 schätzte die New York Times die Siegeschancen von Hillary Clinton auf etwa 85 Prozent ein. Die verfrühte Vorhersage sollte sich als grobe Fehleinschätzung erweisen. Sie basierte auf landesweiten Umfragen, die Clintons Vorsprung überschätzten. Insbesondere in den wichtigen Swing States erhielt Trump deutlich mehr Unterstützung.

Ebenfalls im Jahre 2016 hat Harry Enten, damals bei FiveThirtyEight, den durchschnittlichen Fehler der Umfragen bei jeder Präsidentschaftswahl von 1968 bis 2012 berechnet. Im Durchschnitt lagen die Umfragen um zwei Prozentpunkte daneben. Eine Analyse der American Association for Public Opinion Research ergab, dass der durchschnittliche Fehler der nationalen Umfragen im Jahr 2016 bei 2,2 Punkten lag, aber die Umfragen der einzelnen Bundesstaaten um 5,1 Punkte abwichen. Im Jahr 2020 lagen die nationalen Umfragen um 4,5 Punkte daneben, und die Umfragen auf Bundesstaaten-Ebene verfehlten das Ergebnis erneut um 5,1 Punkte.

Man könnte sich eine Welt vorstellen, in der diese Fehler zufällig sind und sich gegenseitig aufheben. Vielleicht wird Donald Trumps Unterstützung in Michigan um drei Punkte zu niedrig eingeschätzt, aber in Wisconsin um drei Punkte zu hoch. Doch oft begünstigen die Fehler systematisch einen bestimmten Kandidaten. Sowohl 2016 als auch 2020 neigten die Umfragen auf Bundesstaaten-Ebene dazu, Trump-Anhänger zu unterschätzen. Die Umfragen überschätzten Hillary Clintons Vorsprung 2016 um drei Punkte und Joe Bidens Vorsprung 2020 um 4,3 Punkte. Diesmal ist die Prognose düsterer für die Demokraten. Angeblich gewinnt Trump an Boden: mit extrem knappen Vorsprünge in fünf Swing-Staaten. Doch all das geschieht nur innerhalb der eingepreisten Fehlermarge.

Warum die Umfragewerte für Harris Nervosität auslösen

Der 10-Tages-Durchschnitt der Guardian-Umfrage zeigt die Vizepräsidentin mit einem landesweiten Vorsprung von zwei Prozentpunkten – ein Rückgang von 4 %. Engere Umfrageergebnisse haben Angst und Unruhe in Kamala Harris’ Präsidentschaftskampagne bewirkt, da Donald Trump in den entscheidenden Staaten Fahrt aufnimmt und der Wahlkampf in seine finale Phase tritt.

Inmitten eines dramatischen Nachrichtenzyklus – mit zwei zerstörerischen Hurrikans und steigenden Ängsten vor einem Krieg im Nahen Osten – zeigt der 10-Tages-Umfragedurchschnitt des Guardian, dass die Vizepräsidentin und demokratische Kandidatin am 10. Oktober mit 48 % zu 46 % landesweit einen Vorsprung von zwei Prozentpunkten gegenüber ihrem republikanischen Gegner hat – ein Rückgang von einem 4-%-Vorsprung vor zwei Wochen.

„Trump is weak“: Eine Ad-Attacke des Lincoln Projects, das Trumps Schwächen in triggernden Clips aufdeckt und dabei auf Guerilla-Taktiken und Satire setzt.

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Noch beunruhigender für die Demokraten ist das Bild in den sieben entscheidenden Swing-Staaten, die den Wahlausgang bestimmen könnten: Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, North Carolina, Georgia, Arizona und Nevada. In allen sieben Staaten liegen die Kandidaten innerhalb der Fehlermarge sehr eng beieinander. Harris führt nur minimal – mit einem knappen Vorsprung in Nevada und Michigan und einem Vorsprung von nur einem Punkt in Pennsylvania.

Trump hat extrem knappe Vorsprünge in den anderen fünf Swing-Staaten. Falls sich dies am Wahltag, dem 5. November, wiederholen sollte, könnte Trump die nötigen 270 Wahlmännerstimmen erreichen und ins Oval Office zurückkehren. Ein kleiner Trost für Harris ist jedoch, dass zahlreiche Umfragen unterschiedliche Ergebnisse zeigen, was darauf hindeutet, dass dieses spezielle Ergebnis vielleicht nicht eintreten wird.

Eine Simulation von FiveThirtyEight, die Umfrage-, Wirtschafts- und demografische Daten einbezieht, sah Harris am Donnerstag mit einer Wahrscheinlichkeit von 55 von 100 Siegen. Auch eine Umfrage des Wall Street Journal zeigte am Freitag ein optimistischeres Bild, indem sie Harris leichte Vorsprünge in Arizona, Michigan, Wisconsin und Georgia zuschrieb – genug für einen knappen Wahlsieg im Wahlmännerkollegium, sollte sich dies am Wahltag bestätigen.

Die engen Ergebnisse irritieren demokratische Strategen …

… zumal Harris’ Kampagne kürzlich bekanntgab, innerhalb von 80 Tagen eine Milliarde Dollar gesammelt zu haben, seit sie im Juli Joe Biden als Präsidentschaftskandidatin abgelöst hatte – weit mehr als Trump. Bis Ende August hatte Trumps Kampagne vergleichsweise moderate 309 Millionen Dollar gesammelt, obwohl sie durch Unterstützung des Unternehmers Elon Musk’s Super-PAC gefördert wird, der in Swing-Staaten finanzielle Anreize bietet, um Trump-nahe Wähler zu registrieren.

Trotz finanzieller Vorteile scheint Harris seit ihrem Debattensieg gegen Trump am 10. September in Philadelphia an Schwung in den „Blue Wall“-Staaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania verloren zu haben. Dies zeigte eine Umfrage der Quinnipiac University am vergangenen Mittwoch: Ihr damaliger Fünf-Prozent-Vorsprung in Michigan wandelte sich in einen Drei-Punkte-Vorsprung für Trump, 50 % zu 47 %. In Wisconsin schlug ihr Ein-Punkte-Vorsprung nach der Debatte in einen Zwei-Prozent-Vorsprung für Trump um, und in Pennsylvania schrumpfte ihr Sechs-Punkte-Vorsprung auf 3 %.

Ein weiterer Faktor, der Harris’ Chancen beeinträchtigen könnte, ist der eskalierende Nahost-Konflikt, insbesondere Israels Offensive gegen die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah. Dies könnte die Unterstützung in der großen arabischstämmigen Wählerschaft in Michigan weiter schmälern, die bereits wegen der Unterstützung des Weißen Hauses für Israels Krieg gegen die Hamas in Gaza verärgert ist.

Keine Prognose-Garantie: Umfragen sind trügerisch

Quinnipiac zeigt Trump mit deutlichen Vorteilen bei diesem Thema in Michigan und Wisconsin. Trump scheint so siegessicher zu sein, dass er nun auch in demokratischen Hochburgen wie Kalifornien, Illinois und New York Kundgebungen abhält – wohl, um einen Eindruck bevorstehenden Triumphs zu vermitteln.

Mit näher rückendem Ultimatum bis zur Wahl wird die Zeit für Harris knapp, um die Umfragen zu ihren Gunsten zu korrigieren, befürchten demokratische Strategen. Die Zeitleiste wurde zudem durch die Zwillingsstürme Helene und Milton beeinflusst, die den Südosten der USA in den letzten zwei Wochen verwüstet und Harris vom Wahlkampf abgehalten haben, während Trump die Gelegenheit nutzt, um Falschbehauptungen zu verbreiten: über ihr vermeintliches Versagen bei der Bewältigung der Krise.

„Ich bin sehr besorgt und habe große Angst“, sagte James Carville, der Mastermind hinter Bill Clintons erfolgreicher Kampagne von 1992, letzte Woche MSNBC. Mit der Aufforderung, aggressiver gegen Trumps Plan für Importzölle vorzugehen – die nach Meinung von Ökonomen die Inflation anheizen würden – fügte er hinzu: „Sie müssen scharf und aggressiv sein. Aufhören, Fragen zu beantworten, und selbst Fragen stellen.“

Während Umfragen Trump bei Themen wie Wirtschaft, Inflation und Einwanderung klare Vorteile zuschreiben, glauben die meisten Wähler, dass das Land auf dem falschen Weg sei. Doch während Harris ihre finanziellen Reserven bisher nicht in klare Umfragevorsprünge umsetzen konnte, geht es Trump trotz seiner Vorteile bei wichtigen Themen ähnlich. Laut dem Wall Street Journal könnte Trumps Vorsprung bei Wirtschaftsthemen nuancierter sein als auf den ersten Blick ersichtlich.

Trotz der Herausforderungen gibt es für Harris Hoffnungsschimmer

Beispielsweise hat Harris einen Vorsprung von 6 % in Umfragen, die zeigen, dass sie „sich um Menschen wie Sie“ kümmert. Ebenso finden 48 % der Befragten Trump „zu extrem“, verglichen mit 34 %, die das Gleiche über Harris sagen.

Harris hat vielleicht keinen entscheidenden Umfragevorsprung erzielt, doch auch Trump – trotz seiner Selbstsicherheit – weist Schwächen auf, die einen knappen Wahlsieg für Harris in Reichweite bringen könnten.

Warum Demokraten oft einen Vorsprung brauchen, um das Electoral College zu gewinnen? Das sagt die K.I.:

  • Winner-takes-all-System: Im Electoral College gewinnen Kandidaten alle Stimmen eines Staates, wenn sie dort die Mehrheit haben. Große Staaten wie Kalifornien, die stark demokratisch wählen, gleichen kleinere republikanische Staaten daher oft nicht aus.
  • Überrepräsentation kleiner Staaten: Kleine Staaten haben im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Wahlmännerstimmen, was Republikaner begünstigt, da diese Staaten oft konservativer sind.
  • Swing States: Staaten wie Florida, Pennsylvania und Wisconsin entscheiden oft die Wahl. Da viele Swing States leicht republikanisch tendieren, brauchen Demokraten eine landesweite Mehrheit von etwa 5 Prozentpunkten, um im Electoral College zu gewinnen.
  • Geografische Konzentration: Demokraten haben viele Stimmen in städtischen Zentren konzentriert, während republikanische Wähler breiter verteilt sind, was ihnen im Electoral College einen Vorteil verschafft.

Demografische Verschiebungen zugunsten der Demokraten (2024)

  • Wachstum in Swing States: Staaten wie Georgia, Arizona und Texas erleben ein demografisches Wachstum und zunehmende Urbanisierung. Junge, diverse Bevölkerungsgruppen neigen dazu, eher demokratisch zu wählen, was die Dynamik in diesen Staaten verändert.
  • Veränderungen im Rust Belt: Staaten wie Pennsylvania, Michigan und Wisconsin, früher oft republikanisch, haben sich zuletzt eher demokratisch orientiert. Dies könnte für die Demokraten bei knappen Ergebnissen entscheidend sein.
  • Sun Belt-Staaten: Staaten wie Arizona und Georgia, die traditionell republikanisch waren, wechselten 2020 zu den Demokraten. Demografische Veränderungen, insbesondere die wachsende lateinamerikanische und afroamerikanische Bevölkerung, könnten die langfristigen Chancen für die Demokraten verbessern.
  • Abwanderung aus demokratischen Hochburgen: Menschen ziehen zunehmend aus großen, demokratischen Staaten wie Kalifornien in Swing States. Diese Bevölkerungsverschiebung vergrößert die demokratische Wählerschaft in entscheidenden Staaten.

„Shy Voters“ und ihr Einfluss (vor allem zugunsten Trumps in der Vergangenheit)

  • Reduzierter Einfluss der „Shy Voters“ für Trump:
    • Weniger Stigma für Trump-Anhänger: Seit 2016 ist die Unterstützung für Trump offener geworden und ideologisch verfestigt. Die Angst, sich in Umfragen zu äußern, ist daher gesunken.
    • Verfeinerte Umfragetechniken: Wahlforscher berücksichtigen heute Faktoren wie Bildung und soziales Umfeld der Befragten. Dadurch werden die Einflüsse von „Shy Voters“ in Umfragen besser erfasst und reduzieren deren Verfälschung.
    • Stärkere Meinungsbildung: Nach vier Jahren Trump und den Ereignissen von 2020 ist die Bevölkerung in ihrer Meinung zu ihm gefestigter. Dies verringert die Wahrscheinlichkeit, dass seine Anhänger ihre Präferenzen verstecken.
    • Neue und unabhängige Wähler: Die „Shy Voter“-Dynamik könnte inzwischen auch zugunsten der Demokraten wirken, da junge und unabhängige Wähler eher weniger öffentlich ihre Präferenzen für die Demokraten äußern.

Fazit

Zusammengefasst bedeutet dies: Demokraten haben strukturelle Herausforderungen im Electoral College, doch demografische und gesellschaftliche Verschiebungen könnten das Blatt 2024 etwas wenden. Die „Shy Voter“-Dynamik, die Trump in der Vergangenheit geholfen hat, hat heute weniger Einfluss dank verfeinerter Umfragemethoden und einer gefestigteren politischen Landschaft. Letztendlich hängt alles vom Turnout ab, da selbst die besten Prognosen wertlos sind, wenn die Wählerinnen und Wähler, auf die sie sich stützen, am Wahltag nicht tatsächlich zur Wahl erscheinen und ihre Stimme abgeben. Diese Unknown-Unknown-Variable bleibt bestehen.

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