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Die Zukunft hat Ver­gangenheit – Teil 4

Vom Kaufhaus Karstadt zur Phoenix-Galerie – Die Plattenabteilung

„Mmmmm mmm mmmmmmm mmmmmmm mm mm mm mmmm.“
„Äh, meinen Sie vielleicht: Mmm mmm mmm mmmmmmmmmmmmmm mmm mmm?“
Der Kunde schüttelte verneinend den Kopf und summte: „Mmmmm mmm mmmmmmm mmmmmmm mm mm mm mmmm.“
Ich war ratlos. „Einen Moment, bitte. Wir fragen mal meine Kollegin Nicole, die weiß bestimmt, was Sie suchen.“
„Ehm.“ Der Kunde nickte.

Ich signalisierte Nicole, die gerade dabei war, CDs einzusortieren, dass ich mal wieder ihre Hilfe benötigte. Sie tänzelte auch zugleich durch die mit Kunden gefluteten schmalen Gänge der Plattenabteilung zur Kassen-Theke, wo ich mit dem Kunden stand.

„Wie kann ich helfen?“, fragte Nicole Simon den Kunden, der wieder zu summen begann.
„Mmmmm mmm mmmmmmm mmmmmmm mm mm mm mmmm.“
„Alles klar – Listen to Your Heart von Roxette. Drittes Regal, oben links.“

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Nicole Simon – die Frau, die jeden Song kannte

Heute fragt man für die Musikrecherche schnell die KI – damals hatte man Nicole Simon. Sie war die Fachfrau in der Schallplattenabteilung der Bottroper Karstadt-Filiale, vielen einfach bekannt als DJane Nicole, die auch auf zahlreichen Partys auflegte. Eine Institution. Die Leute summten ihre Songs vor, die sie zufällig im Radio gehört hatten, und Nicole nickte nur kurz, verschwand zwischen den Regalen und kam mit genau der richtigen Scheibe zurück.

Samstag, der 30. Dezember 1989

Ich hatte diesmal einen Studentenjob in der Rundfunkabteilung – in der Plattenecke, hinten links, zweite Etage, neben dem Eingang zum Restaurant. Dort, wo man noch stundenlang in Cover-Art stöbern konnte, bis einem die Finger leicht nach Papier und Vinyl rochen. Doch die Tage der Vinylscheiben waren gezählt.

Die CD hatte längst ihren Siegeszug angetreten. Seit 1983 eroberte sie Europa und verdrängte nach und nach die gute alte Schallplatte. Und wer das nötige Kleingeld hatte, fand ein paar Meter weiter gleich den passenden CD-Player in der Rundfunkabteilung.

Die Rundfunk- und Plattenabteilung zusammen mit der neuen Computerabteilung gehörten damals wohl zu den am meisten frequentierten Abteilungen im Karstadt-Kaufhaus. Hier gab’s regelmäßig was zu entdecken: neben neuen Technologien und interessanten Angeboten stieß man hier auch immer wieder auf Computerfreaks, mit denen man fachsimpeln konnte. Auch ich war damals einer dieser Computerfreaks und hatte meinen ersten Heimcomputer bei Karstadt erworben: einen Atari 520ST.

Die Rundfunk- und Plattenabteilung war auch der Ort, an dem man die meisten Bekannten traf. Was zum Teil auch daran lag, dass sich nebenan das Selbstbedienungsrestaurant befand, welches auf mich wie eine Uni-Kantine wirkte und stets gut besucht war.

„Sag mal, Udo, wo gibt’s denn morgen ’ne Silvesterparty?“, fragte mich mein Kumpel Wacker, während ich gerade an der Karstadt-Kasse stand und CD-Preise eintippe. Einen Scanner gab’s 1989 in der Plattenabteilung noch nicht, da war Konzentration gefragt, und Rechnen im Kopf sowieso.

„Party im ’em pom pie’ *. Geht um acht los. 25 Mark für Essen und Trinken, aber keine harten Drinks. Komm vorbei. Nicole legt auf“, sagte ich, ohne von der Kassentastatur hochzuschauen.

Die Sachsen kommen

1989 – ein Jahr, das Geschichte schrieb. Am 9. November verkündet Günter Schabowski, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, beiläufig, dass ab sofort alle Grenzen der DDR offen seien. Eigentlich wollte man in Ost-Berlin nur ein bisschen Druck aus dem Kessel nehmen und die Ausreisewelle über Ungarn und die Tschechoslowakei bremsen. Doch Schabowski verhaspelt sich und trifft damit die Diktatoren des Proletariats mitten ins Mark. Der Rest ist bekannt.

Und so kam es, dass ich am 30. Dezember 1989 in der Plattenabteilung meine erste Begegnung mit einer mir bis dahin völlig unbekannten Spezies hatte: dem gemeinen Sachsen.

„Häbbense ‘Looking For Frieden’ vum David Hasselhoff?“, fragte mich ein Mann, der aussah wie Wolf Biermann, mit nasalem Singsang. Neben ihm stand eine Frau, die mit ihrem violett schimmernden Haar verdächtig an Margot Honecker erinnerte.
„Sogar im Angebot – 24,95“, sagte ich.
„Ossmark?“, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
„Nee, D-Mark.“
„Gibbds’n ooch als Singgl, fer’n Pladdnspieler?“, fragte darauf der Mann.
„Gibbet auch als Single. 4,95 – äh, D-Mark“, antwortete ich.
„Nehmmer“, sagte sie.

Tja, Freiheit hat ihren Preis, dachte ich. Der Nr.-1-Hit in Deutschland im Dezember 1989 war übrigens „Another Day in Paradise“ von Phil Collins. Einer meiner Lieblingssongs in diesem Jahr hingegen war „Lullaby“ von The Cure, soweit ich mich erinnere.

Mein Blick schweifte über die Plattenabteilung, so als müsste ich diesen Augenblick festhalten. Mir einprägen. Vielleicht kennen Sie ja dieses undefinierbare Gefühl? Musik-Kassetten, CDs und Vinylscheiben existierten hier noch in friedlicher Koexistenz. Doch die CD verdrängte allmählich Kassetten und klassische Schallplatten.

Das MP3-Format killt sie alle

Was damals niemand ahnte: Auch die Tage der CD waren gezählt. 1989 tüftelte Tim Berners-Lee am CERN in der Schweiz an den Grundlagen für das World Wide Web. Nur ein Jahr später ging die erste Website online – ein unscheinbarer Meilenstein.

Fünf Jahre darauf, 1995, veränderte das neue Netz die Musiklandschaft völlig: Mit dem MP3-Format, entwickelt am Fraunhofer-Institut in Deutschland, begann die Ära des Musikdownloads.

Der Klang der Erinnerung: Karstadt meets Phoenix-Galerie

Für den Innenhof der Phoenix-Galerie planen wir einen kleinen Container-Campus, mit kreativ gestalteten Boxen, in denen es auch eine ‚Plattenküche‘ geben könnte. Wenn sich jemand dafür findet. Mit An- und Verkauf oder so“, sagte Marcel Wiesten (Geschäftsführung Phoenix Bottrop GmbH), nachdem ich ihm kurz meine Story skizziert hatte.

Wir befanden uns auf dem Wunschzauberer-Weihnachtsmarkt an der Gastromeile. Die Schneekanone hatte mir eine Schaumkrone verpasst, die mich wie eine lächerliche Werbefigur für Schauma-Shampoo aussehen ließ. Na, hoffentlich macht jetzt niemand ein Foto, dachte ich.

„Im Innenhof des Phoenix wird es künftig nicht nur hübsch, sondern richtig lebendig: An ausgewählten Tagen legen dort DJs auf, dazu gibt es Drinks, Snacks und jede Menge Platz zum Abhängen und Leute treffen“, erzählt Marcel. „Außerdem planen wir im Hof eine Bühne, auf der alles passieren kann – vom DJ-Set bis zur Live-Band.“

„Und wer dann noch nicht genug hat, geht eine Etage tiefer“, so Marcel weiter. „Im Untergrund entsteht eine multifunktionale Eventlocation: an manchen Abenden Club oder Disco, an anderen Salsa-Night, Rock oder Electro – und zwischendurch Comedy, Kabarett, Theater und vieles mehr. Kurz: ein Ort, der fast jede Stimmung mitmachen kann.“

Just in diesem Moment erschien Nicole Simon in der Szenerie, wie durch meine Gedanken herbeigezaubert. Na ja, schließlich befanden wir uns auf dem Wunschzauberer-Weihnachtsmarkt. Ich hatte Nicole einige Jahre nicht mehr gesehen.

„Mensch, Udo!“, rief sie. „Schön, dich zu sehen. Hasste vergessen, beim Haarewaschen dein Shampoo auszuspülen?“, scherzte sie.
„Ja, ich werd‘ langsam senil“, antworte ich. „Hab übrigens gerade noch von dir gesprochen, über die alten Karstadt-Zeiten.“
„Eine tolle Zeit.“
„Hättest du Lust, dort mal wieder aufzulegen, im neuen Phoenix, vielleicht bei einer 80er- oder 90er-Party?“
„Ja klar, die Zukunft hat schließlich Vergangenheit.“

Udo Schucker

Weitere Infos zur Phoenix Galerie: https://phoenix-bottrop.de/

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*Das „em pom pie“ war eine Szenekneipe auf der Essener Straße: https://wat-gibbet.de/em-pom-pie/

Lesen Sie zum Thema Karstadt/Phoenix Galerie auch unsere neue Rubrik mit zahlreichen Beiträgen: vom Kaufhaus Karstadt zur Phoenix Galerie

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