Trasse ist Klasse
Verena Liebers erzählt in ihrem neuen Buch vom Abenteuer, vor der Haustür zu laufen.
Haben Sie gewusst, dass Bottrop bei Langstreckenläufern besonders beliebt ist? Was vielleicht daran liegt, dass das Ruhrgebiet bis auf 1.000 Meter Tiefe durchlöchert ist, wie ein Schweizer Käse. Je weniger massig das unterirdische Gestein, desto geringer die Anziehungskraft. Dank der geringen Schwerkraft läuft es sich in Bottrop also besonders leicht. Nein, Kokolores. Warum das tatsächlich so ist und welche Rolle die Laufburschen von Adler 07 dabei spielen, erfahren Sie in Verena Liebers Buch „Trasse ist Klasse“.
Bei dem Wort Langlauf muss ich immer an Tony Richardsons berühmten Film aus dem Jahr 1962 denken: „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“. Am Anfang sieht man den jungen Colin Smith, der eine Landstraße entlangläuft. Colins Stimme ist als Voice-Over zu hören: „Laufen war schon immer eine große Sache in unserer Familie, vor allem das Weglaufen“.
Als Kind bin ich oft weggelaufen. Heute bin ich dafür zu bequem. Wohl wissend, dass meine Kondition nicht ausreicht, um den Dingen, die mich ereilen wollen, zu entkommen. Ich laufe jeden Tag 800 Schritte, von meinem Schreibtisch zu meinem Stamm-Café und zurück. Und erdulde dabei schweigend den Triumph der Trägheit über meinen Willen. Doch damit ist jetzt Schluss!
Verena Liebers Buch „Trasse ist Klasse“ ist ein Plädoyer für die Kraft und Faszination der Natur und zugleich ein Motivationsbuch, das alle Stubenhocker nach draußen zieht.
„Wer dieses Buch gelesen hat, wird sich Fahrrad und Laufschuhe schnappen und nie wieder verreisen, weil er erkannt hat, dass die wahren Abenteuer direkt vor der Haustür locken. Egal wo man lebt.“, so der Klappentext.
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Leseprobe
Otto und was Trassen sind
Das Ruhrgebiet war früher mehr als heute von Bahnstrecken durchzogen, die bekanntermaßen Kohle und Koks, Stahl und Eisen zwischen den Förderanlagen und Fabriken hin und her transportierten. Für die Fördertürme und rauchenden Schlote war die Region so bekannt, dass meine Freunde meinten, ich würde künftig auf einem Schornstein leben, als ich vor 30 Jahren von Bayern nach Bochum zog. Manche denken das sogar heute noch, weil sie immer nur Urlaub in Mallorca machen und Bochum nicht einmal von der Landkarte kennen. Dabei war schon damals, in meinen ersten Ruhrgebietsmonaten, der Himmel über der Ruhr längst wieder blau, und meine Vermieter trockneten ihre Bettlaken im Garten, ohne dass sie anschließend schwarz waren. Wenn mich jemand auf Bergbau anspricht, denke ich als Erstes an das Bochumer Museum und den Bottroper Herbstwaldlauf, der jahrelang am Bergwerk Prosper-Haniel ausgerichtet wurde. Es ist eine Vergangenheit, die zu der Region gehört, schon deshalb, weil bis in alle Ewigkeit Wasser abgepumpt werden muss, wenn das Ruhrgebiet nicht als Seenplatte vermarktet werden soll.
[…]
Bottrop im Herbst
Der Herbst ist die Zeit für Läufer. Die Kondition platzt aus allen Nähten, weil uns das sommerliche Training gestählt hat, und außerdem ist es nicht mehr so heiß. Als herbstliches Traumziel ist neben dem New York City Marathon vor allem Bottrop bekannt. Der Vorteil ist, dass wir kein Flugzeug brauchen, um in Bottrop zu starten – es sei denn, jemand wohnt in New York, da würde sich der Flug aber allemal auch lohnen. Weiterhin gibt es in Bottrop viele bunte Bäume statt großer Häuser, und außerdem hat der Herbstwaldlauf den „Kumpelflair“. Annodunnemal stand nämlich der Verein Adler-Langlauf nach einem Brand ohne Behausung da, und die Bergleute – von jeher an Kameradschaft gewöhnt – boten die Kaue von Prosper-Haniel an. Damit war nicht nur ein Quartier gefunden, sondern auch ein Markenzeichen.
Prosper-Haniel avancierte damit zum Publikumsliebling für die Laufszene. Alle, die nicht unter Tage schuften müssen, fanden das Zechenambiente chic, und die Bergleute fühlten sich dort sowieso zu Hause. Der Förderturm thront seitdem als Wahrzeichen über Start und Ziel des Bottroper Herbstwaldlaufs. Dazwischen liegen wahlweise knapp sieben, zehn, 25 oder 50 Kilometer und eine Eins-a-Organisation vom Verein Adler-Langlauf.
Nun nahte sage und schreibe die 46. Veranstaltung. Obwohl 46 eine ziemlich krumme Zahl ist und kein rundes Jubiläum – meine Schwester meinte bei meinem 46. Geburtstag: „Damit verbindet man ja gar nichts“ –, hatte es diese 46 in sich. Der Kohleausstieg hatte auch Prosper-Haniel erreicht, Schicht im Schacht. Deswegen sollte dieser Abschied noch einmal ordentlich zelebriert werden und die Gästeliste war entsprechend lang. 2500 Läufer fanden sich ein, und die Bottroper Adler mussten ein Teilnehmerlimit ausrufen, damit es in der Kirchheller Heide nicht so eng wurde wie am Münchner Marienplatz. Entsprechend wurden die Startplätze vorher noch gehandelt wie Grubengold, denn natürlich wollte jeder bei diesem legendären Abschied dabei sein. Ich wühlte im Kleiderschrank, fand ein Bottrop-Shirt von der 42. Veranstaltung und hatte eigentlich angenommen, dass sich auf der Strecke zahlreiche Herbstwaldlauf-Shirts finden würden, schließlich sind die T-Shirts doch so etwas wie ein Fotoalbum. Das war dann aber gar nicht der Fall, und so bekam ich für mein Shirt sogar noch einen Pokal: „Weil du so schön aussiehst!“
Die Veranstalter hatten ihre Keller geleert, und es waren eben noch Pokale vom 42. Mal übrig. Manchmal genügt also schon die richtige Kleiderwahl, um gekürt zu werden.
Bis zu diesem Moment war aber schon viel passiert. Erst einmal hatte ich mich morgens um viertel vor sieben in Bochum auf mein Rad geschwungen, eingepackt wie ein Eskimo am Polarkreis, denn die Temperaturen gingen gegen Null. Dank Navigationsgerät konnte ich ohne Umwege sehr stilecht via Erzbahntrasse und Gelsenkirchener Parkwegen nach Bottrop rollen. Dabei konnte ich mich noch gut erinnern, dass ich die Strecke auch schon zu Landkartenzeiten mit dem Fahrrad gemeistert hatte und mir die Anreise damals wie ein großes Abenteuer erschienen war, an dessen Ende ich durchaus verwundert war, dass ich das Ziel tatsächlich erreichte.
Diesmal startete ich meine App und freute mich einfach auf den Sonnenaufgang, der dann allerdings nach dem Motto „Unter Tage ist doch auch kein Licht“ ziemlich dürftig ausfiel. Es war einfach irgendwann hell genug, um ohne Licht zu fahren. Als ich in die letzte Straße vor der Zeche einbog, schoben sich schon Trauben von Autos gen Zeche, und ich entdeckte einen einzigen Läufer, der auch mit dem Rad anreiste. Er kam aus Berlin. Allerdings war er nur das allerletzte Stück von seinem Quartier aus geradelt. Er hatte sich bisher alljährlich mit den Bottroper Adlern anlässlich des Berlin-Marathons getroffen. Nun war er eingeladen, sich endlich auch Bottrop anzusehen. Leider habe ich ihn hinterher nicht mehr getroffen, aber ich bin mir sicher, dass es ihm gefallen hat. Ich habe jedenfalls noch nie einen Läufer gesehen, der Bottrop nicht mag. Vielmehr bekommt jeder so ein Strahlen ins Gesicht und ein paar Anekdoten auf die Lippen. Viele sind in Bottrop ihren ersten Ultra gelaufen, etliche sind Wiederholungstäter, weil Bottrop, das ist irgendwie so wie Weihnachten, das steht immer im Kalender.
[…]
Ein Pokal für Schönheit und einer für Geschwindigkeit, das ist nun mal eine ordentliche Ausbeute, so etwas gibt es bestimmt nur in Bottrop. Danach mochte ich mich kaum trennen, denn es waren noch viele Bekannte auf der langen Strecke unterwegs, Musik sorgte für Stimmung, und man traf hier und da immer jemanden zum Plaudern. Da ich nicht erst im Dunkeln wieder zu Hause sein wollte, schwang ich mich schließlich wieder aufs Rad, die Medaille stolz um den Hals gehängt, und radelte via Emscher, Rhein-Herne-Kanal und Erzbahntrasse 40 Kilometer nach Hause. Auf der Erzbahn hat mich ein unbekannter Läufer gegrüßt, wobei mir erst ein paar Kilometer später aufgefallen ist, dass das ungewöhnlich ist, weil ich doch unterdessen nicht mehr lief, sondern radelte. Üblicherweise grüßen sich doch nur Sportler, die gerade in derselben Disziplin unterwegs sind. Entweder bin ich also so langsam geradelt, dass er mich für eine Läuferin gehalten hat, oder er hat mein Bottroper Glückslächeln persönlich genommen und dachte, das gelte ihm. Warum auch nicht. Ein bisschen Bottrop kann man jedem nur wünschen!
Trassensplitter 12
Es ist plötzlich kalt geworden. Die Blätter hängen in Gelbgrün wie erstarrt an den Zweigen, so als hätten sie vergessen herunterzufallen und wären dann von der Kälte in ihrer Position überrascht worden. Eine Mutter mit Kind im Fahrradanhänger kommt mir entgegengesaust, ihre roten Wangen zeigen, dass sie schwitzt. Die Sonne schiebt sich auf der Seite mit dem Friedhof durch die Brombeersträucher und kahlen Äste, als wolle sie sagen, trotz Leid und Tod wird es wieder hell.
Trasse ist Klasse
Verlag: Egoth-Verlag
Seitenzahl: 256
ISBN: 978-3-903376-53-3
Verena Liebers (Künstlername VIGLi), geb. 1961 in Berlin, Biologiestudium in München, forscht, läuft und schreibt seit 1990 in Bochum. Ihre Texte wurden bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Weitere Infos finden Sie auf ihrer Website: www.vigli.de
Udo Schucker
Postskriptum: Laut meiner intelligenten Armbanduhr hab ich’s doch heute glatt geschafft, 3.231 Schritte zu laufen ;-)