Mord im Ehrenpark – eine Kindergeschichte
Die magische Torwarthose von Fred-Werner Bockholt, die grüne Minna und ich.
„Ich hatte später nie wieder solche Freunde wie damals, als ich 12 war. Aber mein Gott, wer hat die schon?“ Heißt es am Ende in der für mich besten Steven-King-Verfilmung: „Stand by Me“.
Ich stehe am Bottroper Ehrenpark und muss an die Freunde meiner Kindheit denken. Ich bin hier in diesem Viertel in den 1960er Jahren aufgewachsen: Brauer-, Bothen-, Prosper- und Kirchstraße – so hieß damals die Adolf-Kolping-Straße. Der Ehrenpark war einer unserer bevorzugten Spielorte.
Ich blicke vom alten Rodelhang an der Brauerstraße auf die große Wiese im Park. Meine Gedanken ritzen kurz einen Spalt ins Raum-Zeit-Gefüge und schon treten sie hervor, die Freunde von einst: der lange Rösner, die Korte-Brothers, Pickel, die Zwillinge, Detlef, Rainer, Mario, Peter, Helmut, Jürgen, Rüdiger, Michael, der schöne Klaus und all die anderen. Kurz aus der Zeit gefallen, um auf dem Rasen Aufstellung zu nehmen, für meine Reminiszenz an unsere spannende Kindheit im Ehrenpark.
In den 1960er Jahren sah der Park noch etwas anders aus. Die Sträucher waren dichter, die Blumenbeete üppiger und auf dem großen Rasen befand sich noch das klobige Kriegerdenkmal aus rötlichem Sandstein. Es gab einen kleinen Brunnen. Ich erinnere mich an ein riesiges Schachbrett mit einem Meter hohen Figuren, die von älteren Herren bewegt wurden. Neben dem Park gab’s auch noch „Pastors Wiese“, da, wo jetzt das Pfarrhaus steht. Die Wiese erstreckte sich von der Brauerstraße bis hinten zur Friedrich-Ebert-Straße. Im Sommer stand hier das Gras einen Meter hoch und unzählige Zitronenfalter tanzten über den Halmen.
Stielmuspark
Dort, wo sich heute der Ehrenpark befindet, war im 19. Jahrhundert mal ein Dorfteich. Der Ehrenpark hieß bei uns nur Park oder „Stielmuspark“. Die Anwohner, dazu gehörten auch meine Großeltern, hatten dort nach dem Krieg Stielmus angepflanzt. Seinen jetzigen Namen erhielt er 1948 im Zuge der Entnazifizierung, vorher hieß er Langemarckplatz, glaube ich. Das Denkmal sollte an die Gefallenen der beiden Weltkriege erinnern. Einmal im Jahr wurden hier von Soldaten Kränze niedergelegt. Der zirka 2 Meter hohe Quader war bei uns Kindern beliebt, diente als Aussichtsplattform und Kletterwand, was natürlich verboten war. Auf der alten Rollschuhbahn im Park hab ich übrigens das Fahrradfahren erlernt.
Das Beste am Ehrenpark war die große Rasenfläche im Zentrum. Von den städtischen Gärtnern top gepflegt und streng behütet. Der Rasen wurde alle paar Wochen gemäht, danach duftete immer die ganze Brauerstraße nach frisch gemähtem Gras. Ich liebte diesen Duft. Kurzum, der Rasen war der Traum eines jeden Fußballspielers. Nur war das Betreten der Rasenfläche streng verboten.
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Fußballspielen gehörte in unseren Kindertagen zu unserer Lieblingsaktivität. Wir pöhlten überall, auf den Straßen, in den Hinterhöfen, auf den Schulhöfen, zerschossen dabei auch versehentlich ein paar Fensterscheiben und wurden überall vertrieben. Diese kommerzielle Balltreterei von heute interessiert mich kein bisschen mehr, als Kind war Fußball aber ein zentraler Punkt in meinem Leben. Ich war sogar kurz Torwart in der Knabenmannschaft des VFB Bottrop.
Nun, nachdem einige Fensterscheiben dran glauben mussten, meinten unsere Eltern irgendwann, warum spielt ihr nicht im Park, auf dem Rasen. Weil die Gärtner jeden mit der Mistgabel verjagen. Ja, aber die haben doch ab 16 Uhr Feierabend und sind nicht jeden Tag vor Ort. Und so legten wir uns auf die Lauer.
Die städtischen Gärtner verschwanden am frühen Nachmittag in ihrer Werkstatt hinter der Mädchen-Realschule. Sobald sie außer Sicht waren, okkupierten wir einen Teil der Rasenfläche. Zwei Tore waren schnell mit Kleidungsstücken markiert und los ging’s. Abwechselnd durften sich zwei von den Älteren ihre Wunschmannschaft aus den anwesenden Kids zusammenstellen. Ich gehörte anfangs immer zu den Letzten, die ausgewählt wurden. Das sollte sich allerdings bald ändern.
Regeln waren für uns sekundär, wir wollten einfach nur Fußball spielen. Doch etwas hatten wir nicht bedacht: Tretminen. Der ansonsten so gepflegte Rasen war mit zahlreichen Hundehaufen gespickt. Und so endete meine erste Torwartparade in der Scheiße. Danach wurde vor jedem Spiel erst einmal der Torraum durchsucht und ggf. vom Hundemist befreit.
Fred-Werner Bockholts magische Torwarthose
Fred-Werner Bockholt spielte damals als Torwart bei Rot-Weis Essen, der Verein war da noch in der ersten Liga, und Fred-Werner genoss eine gewisse Popularität. Einer von uns. Seine Mutter wohnte auf der Bothenstraße, in unserem Viertel und war mit meiner Mutter gut bekannt. Eines Tages übergab sie meiner Mutter eine ausrangierte Torwarthose ihres Sohnes, da sie wusste, dass ich am liebsten als Keeper spielte. Ich war natürlich stolz wie Oskar, Fred-Werner war für uns Kinder so eine Art Vorbild, kam gleich nach Tilkowski, Radenković und Lew Iwanowitsch Jaschin.
Die Hose war zwar viel zu groß für den kleinen Udo, was zu Witzeleien führte, aber ich wollte ja keine gute Figur abgeben, sondern ein tolles Spiel liefern. Als ich zum ersten Mal mit Fred-Werners Buxe im Tor stand, spürte ich sofort die Magie, mein Kasten bleibt heute jungfräulich, an mir kommt keiner vorbei. Und so war’s auch, ich zeigte grandiose Paraden, hielt jeden Ball und stürzte mich todesmutig in jeden Angreifer. Selbst der drei Jahre ältere lange Rösner (unser Fußball-Leader) lobte mich an diesem Abend vor den versammelten Kids für meine hervorragende Leistung an diesem Tag. Danach wollten mich alle in ihrem Team. Ich war der „Master of the Universe“, zumindest für diesen Tag.
Natürlich bekamen die Gärtner schnell mit, dass wir auf ihrem Rasen herumtrampelten und lauerten uns auf. Doch ihre Versuche, uns zu einzufangen, scheiterten. Wir waren einfach zu flink. Einer von ihnen ist sogar mehrfach mit der Mistgabel hinter uns her. Einmal hatten sie Glück und kassierten unseren Ball. Wir wurden immer abgebrühter, spielten sogar, wenn die Gartentruppe noch im Park aktiv war. Machten uns einen Spaß daraus, mit ihnen zu dribbeln. Irgendwann resignierten sie und riefen die Polizei.
Die „Grüne Minna“
Slapstick vom Feinsten. Mehre Beamte stürmten in den Park und versuchten einen Haufen Kinder einzufangen, und in die „Grüne Minna“ zu bugsieren. Der Fitness-Zustand der Beamten war allerdings desolat. Einige stolperten über ihre eigenen Beine. Andre rutschen auf den zahlreichen Tretminen aus oder ihnen ging schlicht nach kurzer Zeit die Puste aus. Der Park bot zu jener Zeit gute Verstecke und das „Fangenspielen“ war bei uns Kindern sehr beliebt, bei den Polizeibeamten eher weniger. Aus lauter Frust haben sie dann ein paar Kinder auf der Rollschuhbahn mitgeschleppt, die mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatten, unter anderen auch die Tochter unseres Nachbarn.
Widerstand ist Bürgerpflicht
Unsere Eltern beschwerten sich, man solle endlich aufhören, friedlich spielende Kinder zu belästigen und stattdessen mehr für Kinder und Jugendliche tun. Die ganze Geschichte drohte zum Politikum zu werden, besonders nachdem sich Clemens Kraienhorst für die Sache engagierte. Zur Eskalation kam es dann im Januar, als der erste Schnee fiel und die Stadt den Kindern im Viertel auch noch verbieten wollte, auf dem Rodelhang am Park Schlitten zu fahren, wie in den Jahren zuvor. Der Rasen hatte gelitten. Man montierte extra einen Zaun, den wir einfach wieder demontierten. Einhundert Kinder und der Geschmack von Schnee. Wir waren nicht zu stoppen. Die WAZ und die Bildzeitung berichteten darüber und ließen die Politik ziemlich alt aussehen. Und so ließ man schließlich die „Kids on the Block“ in Frieden die Tage ihre Kindheit erleben.
Mord im Park
Gut, kommen wir jetzt zu der Leiche im Ehrenpark, da warten Sie sicher schon drauf? Den Mord gab’s Anfang der 1970er Jahre wirklich, aber ich muss gestehen, ich habe diesen Absatz nur eingebaut, um Sie mit der reißerischen Überschrift zu locken. Mord und Totschlag verkaufen sich nun mal besser, als eine alte Torwarthose. Man möge mir verzeihen.
Ich hab die Leiche zwar nicht gefunden, aber gesehen. Eine junge Frau lag tot in der Senke vor dem alten Ehrenmal. Eine Beziehungstat. Der Täter wurde noch am nächsten Tag festgenommen: Es war der Freund, er hatte seine Partnerin in einem Anfall von Eifersucht getötet. Der ganze Fall war im Grunde genommen unspektakulär, einfach nur traurig.
Wir spielten noch bis zum Ende der 1960er Jahre Fußball im Ehrenpark. Dann erwischte mich die Pubertät mit einer vollen Breitseite und die Nachbarstochter rückte in meinen Fokus.
Die lobenden Worte von Hartmut Rösner, als ich Fred-Werner Bockholts Hose das erste Mal trug, habe ich nie vergessen. Und wenn ich tief in mich fühle, spüre ich noch immer das unglaubliche Gefühl, das mich an jenem Tag durchströmte: „Master of the Universe“.
Der lange Rösner hat Jahre später einmal versucht, die ganze Mannschaft von damals für ein Spiel im Park zusammenzutrommeln. Leider vergeblich. Hartmut ist kurze Zeit später verstorben. Fred-Werner Bockholt habe ich letzte Woche noch auf der Gastromeile getroffen. Ich hab nie wieder Fußball gespielt.
Udo Schucker
Dank an Beatrix Schweizer für die Fotos aus dem Archiv ihres Vaters.