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Marktforschung

Absurdes Theater mit VLADIMIR und ESTRAGON

Unsere beiden Protagonisten sitzen am HÖTTENPLATZ auf einer Bank und warten wie immer auf Godot. VLADIMIR liest in der WAZ. ESTRAGON zieht eine Mundharmonika aus der Tasche und spielt das LIED VOM TOD …

ESTRAGON (nimmt die Mundharmonika aus dem Mund)
Wat sachte Charles Bronsen am Ende von „Spiel mir das Lied vom Tod“ zu Claudia Cardinale?

VLADIMIR (in die Zeitung blickend)
Irgendeiner wartet immer.

ESTRAGON
Genau. Und wie lange warten wir jetzt schon auf Godot?

VLADIMIR (in die Zeitung blickend)
Seit 1953.

ESTRAGON
Über 70 Jahre. Und der Kerl kommt einfach nicht.

VLADIMIR (in die Zeitung blickend)
Das ist nun mal unsere Rolle. Andere sind 70 und wissen immer noch nicht, welche Rolle sie in diesem Leben spielen. Unsere Rolle war dagegen von Anfang an klar beschrieben.

ESTRAGON
Und, was ist der Sinn?

VLADIMIR (in die Zeitung blickend)
Warten auf Godot.

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ESTRAGON
Ja, ja – ich geb’s auf. Steht wenigstens etwas Sinnvolles in deinem Watz-Blatt da.

VLADIMIR (in die Zeitung blickend)
Die Volksbank spendet für den Tierschutz. Die Sparkasse spendet für den Tierschutz. Die Volksbank fördert den Kindersport. Die Sparkasse fördert für den Kindersport. Die Volksbank unterstützt Bottroper Künstler. Die Sparkasse unterstützt Bottroper Künstler. In der Ebel ist ein Baum umgefallen. Die Volksbank pflanzt neue Bäume. Die Sparkasse pflanzt neue Bäume.

ESTRAGON
Läuft hier eigentlich noch was ohne die Banken?

VLADIMIR (zerknüllt ganz langsam die Zeitung)
Die Bottroper Wirtschaftsförderung zahlt 18.000 Euro für `ne Marktviertelanalyse.

ESTRAGON
Ich denk‘, die Stadt ist pleite?

VLADIMIR
Stimmt. Aber für Freunde und Verwandte ist vielleicht noch was übrig? Hier muss keiner hungern.

ESTRAGON
Bottrop hat doch gar kein Marktviertel. Hat ’nen Altmarkt oder den Berliner Platz?

VLADIMIR
Das mit dem Marktviertel ist auch nur ein Marketing-Coup vom Schravinski, für seine drei mobilen Verkaufsbuden. Vor hundert Jahren gab’s da wohl mal einen Viehmarkt.

ESTRAGON
So ein Viertel macht auch was her: Belgisches Viertel, Rotlichtviertel, Brera-Viertel, Glockenbachviertel, Schanzenviertel, Rathausviertel, Quartier Latin.

VLADIMIR
Ein Viertel ist auch mehr als ein Platz.

ESTRAGON
Ist ein Platz nicht ein Ganzes?

VLADIMIR
Na, mit Brüchen kennt sich doch keiner mehr aus, bis auf Unfallchirurgen vielleicht.

ESTRAGON
Kam bei dem Ganzen eigentlich was raus? Bei der Marktforschung, mein ich?

VLADIMIR
Ein paar technische Verbesserungsvorschläge und die Erkenntnis, dass man einen kompetenten Markt-Manager braucht. Aber das wusste man ja schon vorher.

ESTRAGON
Und der Berliner Platz?

VLADIMIR
Ist Tabu oder soll vielleicht als Parkplatz dienen? Der „grüne Jo“ hat da letztens noch einen Gedanken geäußert und wurde vom Schravinski gleich niedergewalzt.

ESTRAGON
Der „müde Joe“, die linke Hand des Teufels?

VLADIMIR
Nein, nicht Terence Hill. Der grüne Jo, die rechte Hand von der Andrea.

ESTRAGON
Ach, der Jo von den Grünen.

VLADIMIR
Jau. Hatte vorgeschlagen, den Berliner Platz mit einzubeziehen und dort die Viktualien zu positionieren. Dann könnten, besonders ältere Leute, direkt mit dem Bus vorfahren und ihre Lebensmittel einkaufen. Müssten nicht mehr quer durch die Stadt latschen.

ESTRAGON
Klingt logisch, nutzerfreundlich und barrierefreier. Besonders, wenn man den dämonischen Wandel mit einbezieht.

VLADIMIR
Du meinst sicher den demografischen Wandel?

ESTRAGON
Äh, dass die Leute älter werden, mein ich.

VLADIMIR
Auf der gesperrten Poststraße könnte man Fressbuden aufstellen. Und auf dem Höttenplatz dürften dann Kunsthandwerker, Trödelhändler oder Bürger ihre Ware feilbieten. Dazu Livemusik.

ESTRAGON
Eine Tangente, die alle Interessenkurven berührt, aber keine durchschneidet. Geometrisch durchdacht.

VLADIMIR
Schon, aber der Schravinski und seine Korrekten haben’s nicht so mit Geometrie, die mögen lieber Bruchrechnung und wollen mit aller Macht ihr Viertel. Und die noch verbliebenen Markthändler wollen sich auch nicht mehr vom Fleck bewegen.

ESTRAGON
Na, ja, viele Supermärkte bieten ja heutzutage günstige Produkte aus der Region.

VLADIMIR
Früher konnte man auf dem Markt noch Kaninchen streicheln und lebende Hühner kaufen, für die Suppe.

ESTRAGON
Will ja keiner mehr Federn rupfen.

VLADIMIR
Ja, der klassische Wochenmarkt ist ein Auslaufmodell.

ESTRAGON
Genau wie wir. Seit siebzig Jahren warten wir nun schon auf Godot.

VLADIMIR
Richard Burton, Jean-Paul Belmondo, Robert De Niro, Gerard Depardieu, Jean-Louis Trintignant, Robin Williams, John Malkovich, Peter Falk, Jack Lemmon, Walter Matthau, Laurence Olivier, Marcello Mastroianni, Peter O’Toole, John Goodman, Colin Farrell, Yves Montand, Dustin Hoffman, Bruno Ganz, Ulrich Mühe, Albert Finney …

ESTRAGON (unterbricht Vladimirs Aufzählung)
Wat is mit denen?

VLADIMIR
Die haben uns gespielt. Wir waren sie. Sie sind wir.

ESTRAGON
Wir sind Legion.

VLADIMIR
Und irgendeiner wartet immer.

Estragon zieht seine Mundharmonika aus der Tasche und spielt das Lied vom Tod …

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