Learning by doing
Eine Kurzgeschichte aus der Gastronomie von Igor Albanese
Das Stehcafé ist zum Bersten voll. In diesen ersten Monaten des Bestehens ist jeder Gast eine Neuentdeckung, viele sind bereits nach wenigen Wochen Stammgäste geworden.
Der frisch gebackene Wirt ist heute spät dran. Mit mehreren Einkaufstüten bepackt, schlängelt er zwischen den Stehtischen und Gästen hindurch, die auf den Barhockern sitzend ihre Mahlzeit einnehmen. Dem Einen oder Anderen grüßt er per Namen, wechselt ein paar Höflichkeitsfloskeln und eilt in die Küche, um die fehlenden Kohlrabi für den Eintopf abzuliefern. Im Vorbeigehen wirft er einen Blick auf die Schiefertafel mit dem Mittagsangebot. Seit er den neuen Mann in der Küche hat, ist sie immer wieder eine Überraschung.
Carpaccio vom Rinderfilet fällt ihm auf. Der venezianische Maler ist ihm noch aus der Schule ein Begriff, aber dass der neue Koch ihn kennt, wundert ihn. Der Koch ist eigentlich ein Metzgergeselle, für den Fleischzerlegung und Kochen, neben Fußball, die einzigen erhabenen Künste sind. Na ja, diesmal hat er sich einen besonders guten Namen für seine Kreation ausgesucht.
Am Stammtisch sitzt ein Gast, der vor kurzem aus den neuen Bundesländern zum Haumannplatz gezogen ist, ein zurückhaltender, modisch angezogener Mittvierziger. Von seinem Platz neben der Theke mustert er die anderen Gäste. Ausdauernd gleitet sein Blick von Gesicht zu Gesicht, als ob er einer gewinnbringenden Beschäftigung nachginge. Er grüßt den Wirt mit einem Nicken und widmet sich wieder seiner Studie.
Hinter der Theke herrscht Chaos, denn das Mädchen im Service ist neu und unerfahren, der Barkeeper restlos überfordert. Während er dem Chef einen Lagebericht abgibt, fängt dieser an, die leeren Flaschen, die sich auf der Theke gestapelt haben, einzusammeln und schmutzige Aschenbecher mit dem Pinsel zu säubern.
„Herr Leonardo!“, ruft der Gast vom Stammtisch, der immer noch nicht begriffen hat, dass der Name der Gaststätte nicht automatisch auch der Name des Wirtes ist.
„Ja bitte?“, fragt der Patrone in seine Aufräumarbeit vertieft.
„Haben sie denn keine Mikrowelle?“
„Aber selbstverständlich“, antwortet der Patrone, während er hastig mit einer Karaffe Leitungswasser die drohende Katastrophe durch einen glühenden Zigarettenstummel in der Mülltonne zu retten versucht.
„Und warum nutzen Sie sie nicht?“ Die Stimme des Gastes ist durch sichtlichen Ärger um eine Oktave gestiegen. Mit beleidigter Miene steht er bereits neben dem Wirt und reicht ihm den Teller, den er soeben serviert bekommen hat. „Das ist nicht mal kalt… , das ist gefroren!“
Der Patrone nimmt den Teller in die Hand und stellt zu seinem Entsetzen fest, dass der Gast aus Gera überhaupt nicht übertrieben hat. Das dünn geschnittene Rinderfilet ist tatsächlich verdammt kalt. Er weiß nicht, was er sagen soll: „Es tut mir leid…“ Mit aufsteigender Wut läuft er zum Koch in die Küche.
„Was soll das? Das ist kein Rinderfilet. Nicht nur, dass das Fleisch eiskalt ist, es ist auch zu dünn geschnitten.“
Der Metzgergeselle schaut den Patron verwirrt an: „Wie bitte?“, stottert er leise, eingeschüchtert von vor Wut verzerrtem Gesicht des Chefs, der Anstalten macht, den Teller auf den Boden zu werfen. Stumm vor Schrecken holt er das Kochbuch „Bella Italia“ aus dem Regal, blättert die Seite mit dem Rezept für Carpaccio und versucht, das abgebildete Gericht dem Chef aus vorsichtiger Entfernung zu zeigen: „Es muss so sein, so steht es im Buch“, flüstert der Koch den Tränen nahe.
„Erzählen sie keinen Blödsinn!“, knurrt der Wirt. Da der Barkeeper den Carpaccioteller in einer waghalsigen Rettungsaktion aus seinem Griff befreien konnte, sucht er jetzt einen anderen geeigneten Gegenstand, um ihn dem fassungslosen Koch vor die Füße zu werfen. Aus Verzweiflung nimmt er das Kochbuch aus den Händen des Kochs: „Rinderfilet ist Rinderfilet!“, schreit er und hebt das Buch, um es auf den Küchenboden zu werfen. Das große Farbfoto des Carpaccio auf der aufgeschlagenen Seite des Buches lacht ihn höhnisch an. Das Bild ist das Abbild des Tellers mit der außergewöhnlichen Kreation seines eingeschüchterten Kochs. Mit hochgezogenen Augenbrauen und zusammengekniffenen Mundwinkeln mustert er das Photo. Er kann es kaum glauben, aber er versucht, wenn auch widerwillig, sich zu beruhigen.
Abwechselnd betrachtet er den Teller mit dem Carpaccio in den Händen des Barkeepers und das Abbild im Kochbuch: „Sie haben recht“, zischt er kleinlaut in Richtung Metzgergeselle, „Es muss wohl so sein, glaube ich.“
Sein kulinarischer Horizont, der von Butterbrot mit Mortadella bis zur Pizza Quatro staggioni reichte, erweitert sich zusehends, Carpaccio als Maler aus seiner schulischen Erinnerung hat an Dimension gewonnen. Der Koch und Metzgergeselle, in seiner Daseinsberechtigung bestätigt, kommt erleichtert wieder zu sich. Der Patrone klopft ihm, Frieden schließend, auf die Schulter und fängt an, über seine bevorstehende Aufgabe zu grübeln: Wie soll er das dem Gast beibringen, ohne ihn zu beleidigen oder gar bloßzustellen? „Na ja…“, ohne Konzept verlässt er die Küche in Richtung Stammtisch. Der Gast aus Gera wartet schon, gespannt auf eine plausible Erklärung.
„Es tut mir leid, wir hätten auf die Tafel schreiben sollen, dass Carpaccio bei uns kalt serviert wird. Probieren sie es aus, und wenn es ihnen nicht schmeckt, schiebe ich den Teller in die Mikrowelle, was durchaus auch üblich ist.“
Der verunsicherte Gast, der nach der Zeit von Glasnost und Perestrojka viele neue Erfahrungen zu verarbeiten hatte, lässt sich überreden … mit Vorbehalt. Der Patrone atmet aus und begibt sich in den Gastraum, wo das Mädchen in der Zwischenzeit alles, was sich angeboten hatte, falsch gemacht hat. Nachdem er die Lage einigermaßen geregelt hatte, schaut er in Richtung Stammtisch. Der Gast hat den Teller leer gegessen, sein Glas Wein ausgetrunken, die Zigarette angezündet.
„Hat es ihnen geschmeckt?“
„Es war nicht schlecht. Bis dato habe ich das Gericht immer warm gegessen, aber man kann sich daran gewöhnen.“
Im Radio singt gerade Adriano Celentano „Azzuro“, das Mittagsgeschäft flaut allmählich ab, der Gast aus Gera zieht einen tiefen Lungenzug an seiner Lord extra und schaut den Wirt an: „Machen sie mir jetzt bitte einen „Expresso“ und eine „Terra cotta.“
Dem Patrone, der heute genug mit Verwirrung zu tun gehabt hatte, bleibt ein Fragezeichen im Gesicht geschrieben. „Terra cotta?“
„Terra cotta“, wiederholt der Gast: „Sie wissen schon, die weiße Creme, der Nachtisch aus Sahne… oder so.“
„Aha… .“ Der Wirt geht sinnend in die Küche, nimmt das Kochbuch „Bella Italia“ aus dem Regal und schlägt irritiert die Seite unter „T“ auf.