Buchtipp: Fin de Siècle
»Wat-gibbet« ist ein Bottroper Stadtmagazin – doch was spricht gegen einen Schwenk ins historische Wien? ⚔️
Eigentlich nichts, denn Kunst & Kultur sind uns auf die Fahne geschrieben: Ein Interview mit Claudia Roosen über ihr neues Fachbuch, Außenpolitik und das Bottroper Setting ihres Romans. Klingt ein wenig bunt? Dann schalten wir jetzt in den Schwarz-Weiß-Modus um! :-)
Schnitzlers Fiktion verführt mit scheinbar eindeutigen Bildern eines längst vergangenen Wiens. Wie Champagner vibriert die Luft, wenn sich seine leichtlebigen Bürger zu leutseliger Konversation im Prater treffen und, weiter kein Ziel verfolgend, ihren notorischen Charme ausspielen. Als Typen leicht einzuordnen, entsprechen sie exakt den jeweiligen Gesellschaftsklischees. Doch das Versprechen heiterer Banalität wird nicht eingelöst: Das Buch thematisiert die psychologischen Trigger, welche das Kartenhaus ihres süßen Lebens bei fortschreitender Handlung zum Einsturz bringen. Mit meiner Kollegin Claudia Roosen sprach ich über ihr neues Fachbuch und den von ihr entwickelten Ansatz – mit einem Brückenschlag zur politischen Gegenwart.
Eine Facette deines Buches ist die Verwendung von Microfilm-Archiven, um die Schnitzler-Forschung der vergangenen Jahrzehnte zu beleuchten. Warum hast du entschieden, diese Quellen zu nutzen, und welche Erkenntnisse ließen sich daraus gewinnen?
Anzeige
Durch die Analyse dieser Quellen konnte ich ein tieferes Verständnis für die Entwicklung der verschiedenen Interpretationsrichtungen gewinnen: bis in die 80er und 90er Jahre hinein, bevor die Digitalisierung die Literaturkritik transformierte. Zu dieser Zeit lag der Fokus der Schnitzler-Rezension auf einer psychologischen Interpretation seiner Werke, abseits der biografischen Herangehensweise. Das ist mitunter spannender als das fortgeschleppte Klischees vom walzerseligen Wiener Autor, der doch in Wahrheit die mondäne Kulisse nur nutzte, um gesellschaftliche Abgründe aufzudecken.
Inwiefern hat die Einbindung von KI deine Arbeit als Autorin und Werbetexterin verbessert?
In Bezug auf dieses Buch habe ich auf eigene Formulierungen vertraut. Nur so konnte ich dem Leser meine Begeisterung für Schnitzler auch authentisch nahebringen. Die zunehmende Automatisierung hat aber zweifellos die Art und Weise verändert, wie wir kommunizieren. Nicht selten schlägt mir ChatGPT Ansätze vor, die meine eigene Kreativität um eine neue Perspektive ergänzen. Die Technologie fungiert dabei als Brainstorming-Instrument, um Ideen zu generieren. In diesem Sinne verstehe ich mich auch als Textingenieur. Bevorzugt möchte ich jedoch Geschichten erzählen, die Emotionen wecken.
Ist ein Fachbuch mit Fußnoten nicht zu trocken, um zu faszinieren?
Vielleicht ist es Wunschdenken. Doch ich würde gern bewirken, dass der eine oder andere Leser aufgrund der indirekten Herangehensweise alles hinterfragt, was er bisher über Schnitzlers Protagonisten dachte: etwa wie ein Detektiv, der plötzlich den doppelten Boden ihrer Handlungen sieht und eine Welt voller Widersprüche betritt. In ihr ist nichts mehr, wie es zuvor noch erschien.
Du schreibst, bei Schnitzlers Helden handele es sich um einen schnelllebigen Menschentyp, der (Zitat) „gierig, zynisch, zerrissen, fragil“ bis heute nicht überlebt sei …
Wenn man erratische Charaktere wie Leutnant Gustl betrachtet, sieht man einen Antihelden mit fehlender Impulskontrolle, der zugleich durch ein autoritäres Denksystem geprägt ist. Sein künstlich überhöhtes Selbstvertrauen erinnert entfernt an die Demagogen der Gegenwart, darunter Donald Trump. Bezeichnend für diesen Persönlichkeitstyp ist eine Abneigung gegen Kritik bei hoher Kränkbarkeit und der Bereitschaft, die Wahrheit zu verdrehen, um die eigene Agenda voranzutreiben.
Frage über den großen Teich und unseren Tassenrand: Glaubst Du, dass Biden Trump im Duell um das weiße Haus noch stoppen kann?
Biden hat bisher eine solide Amtsbilanz vorzuweisen, doch die Umfrageergebnisse spiegeln seine Verdienste nicht wider. Wenn Trump die Wahl gewinnt, wird er überall seine Loyalisten einsetzen, bis tief in die Verwaltung hinein. Die demokratischen „Checks & Balances“ im Sinne einer Gewaltenteilung würden damit ausgehebelt. Mit der Berufung von konservativen Entscheidungsträgern wie Brett Kavanaugh oder Neil Gorsuch hat Trump den Flügel des Gerichts schon jetzt auf Jahre hinaus nach rechts gerückt. Dass die von ihm ernannte Richterin Aileen Cannon Prozesstermine zu seinen Gunsten verzögert, fügt sich da gut ins Bild. Ob die amerikanische Demokratie standhält, ist ungewiss. Dann hat nicht nur das liberale Amerika, sondern auch Europa ein großes Problem.
„Back to the Roots!“: Du hast einen Krimi veröffentlicht, der an der Herz-Jesu-Kirche beginnt und dessen Romanhandlung auch sonst schemenhaft die Topografie Bottrops erahnen lässt.
Ich bin dort teilweise aufgewachsen und habe die Stadt immer als Microkosmos empfunden: perfekt für geheimnisvolle Verwicklungen, wie sie in der hermetisch versiegelten Welt von „Schattenparty“ stattfinden. Zu der Erzähltechnik haben mich Schnitzlers innere Monologe inspiriert. Der „Stream-of-Consciousness“-Stil ermöglicht es, Nachtseiten auszuleuchten. Hier schließt sich der Kreis! :-)
Mehr von Claudia Roosen: https://wat-gibbet.de/schattenparty-roman-claudia-roosen/
Buchcovergestaltung und Videoclip: Udo Schucker
Fin de Siècle: Rätsel, Romantik & Ruin in Schnitzlers Wien (Deutsche Ausgabe) Kindle Edition und Printausgabe.
ASIN : B0CRV4X1X8
Sprache : Deutsch
Dateigröße : 1034 KB
Text-to-Speech : Aktiviert
Bildschirmleser : Unterstützt
Verbesserter Schriftsatz : Aktiviert
Drucklänge : 245 Seiten