Qué será, será
2030 – Odyssee auf der Gastromeile
Ein goldener Oktobertag im Jahr 2030. Herr Blum war müde und entspannte sich nach einer stressigen Autogrammstunde im Außenbereich des Café Mio auf der Bottroper Gastromeile. Leopold Blum hatte in seiner Funktion als Alfred-Hitchcock-Doppelgänger am Mittag im Bottroper Moviepark Autogrammkarten signiert. Blum konnte nicht nur Hitchcocks Unterschrift perfekt nachmachen, auch sein Hitchcock-Akzent klang täuschend echt. Eigentlich war Herr Blum schon seit geraumer Zeit Pensionär, doch bei seinen mickrigen Bezügen, war ein gelegentlicher Zuverdienst stets willkommen. Herr Blum arbeitete für eine Doppelgänger-Agentur, die ihm regelmäßig Engagements verschaffte.
Für Ende Oktober war es mal wieder viel zu warm. Das Thermometer kletterte bis auf die 30 ° C. Herr Blum schwitzte leicht unter seinem schwarzen Anzug. Er lockerte seine dunkelgraue Seidenkrawatte von „Turnbull & Asser“ und nahm die Melone vom Kopf, ein Erbstück, das sein Urgroßvater angeblich von den englischen Hutmachern Thomas und William Bowler erworben hatte. Blum liebte seine Melone, er tätschelte sie zärtlich und legte das gute Erbstück auf einen Stuhl neben sich.
Das „Café Mio“ nahm seit einem Jahr an einem Feldversuch der Hochschule Ruhr West teil, in dem der Einsatz von KI-basierten Servicerobotern auf der Gastromeile erprobt wurde. ELIZA, die Service KI trat leise an Herrn Blums Tisch und kullerte mit ihren großen Robo-Augen. „Hallo, Herr Blum, schön Sie zu sehen. Möchten Sie das Zitat des Tages hören?“
„Nein, möchte ich nicht, ELIZA. Ich möchte nur was bestellen!“
„Ich zitiere trotzdem: `Die Mitte der Nacht ist auch schon der Anfang eines neuen Tages´. Papst Paul der Zweite.“
„Ah, ha“, Herr Blum sah die Service-KI etwas ratlos an. ELIZA kullerte erneut mit den Augen.
„Apfelkuchen und einen großen, schwarzen Kaffee, wie immer?“
„Ja, bitte! – ELIZA, gibt es ein Leben nach dem Tod?“
„42.“
„Wie, 42?“
„42 ist die Antwort auf alles! – Ich hole Ihre Bestellung!“ ELIZA schlich geschmeidig davon.
Anzeige
In den letzten Jahren hatte sich einiges verändert. Besonders nach der letzten Bürgermeisterwahl in Bottrop. Die ganze Stadt stand nun im Fokus der Weltöffentlichkeit. Angefangen hatte alles damit, dass sich ein parteiloser Kandidat namens „Dubček“ für das Bürgermeisteramt beworben hatte. Als herauskam, dass es sich dabei um eine neuartige Bürgermeister-KI des Fraunhofer-Instituts handelte, war die Begeisterung bei der Bevölkerung groß. Das Geschrei bei den Politikern noch größer.
Doch das Volk sehnte sich nach einer Politik der reinen Vernunft. Nach vorausschauendem Handeln. Nach politischen Entscheidungen, die frei sind von ideologischem Starrsinn und Lobbyismus. Doch Intelligenz war in unserem politischen System nicht vorgesehen, künstliche schon gar nicht. Hier schlug dann die Stunde der Bottroper Grünen. Deren Politstratege Jo Gutche erinnerte sich daran, wie die Studenten 1968 europaweit Dubček-Swoboda riefen und den Prager Frühling beschworen. Gut, der wurde damals von russischen Panzern niedergemetzelt. Doch nach der verlorenen Schlacht um die Krim hatten die Russen ja keine Panzer mehr.
Und da die Grünen ja noch eine erfahrene Bürgermeisterkandidatin namens Swoboda in petto hatten, war die Sache schnell klar: eine Doppelspitze im Bürgermeisteramt. Dubček-Swoboda – der Bottroper Frühling. Rechtlich war damit alles im grünen Bereich und die Wahl wurde haushoch gewonnen. Und so wurde Bottrop zum globalen Feldversuch für eine neue Art der politischen Kultur. Demokratie 4.0.
Jo Gutche schrieb einen Bestseller: „Die Politik der reinen Vernunft. Wie ein Algorithmus Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit in die Politik bringt.“ Seitdem war Herr Gutche einmal im Monat zu Gast bei Lanz, wo er schließlich den prächtigen David ablöste, dessen selbstherrliches Gelaber niemand mehr ertragen konnte. Besonders die CDU tobte. Ihr neuer Parteivorsitzender Philipp Amthor sprach sogar von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Friedrich Merz, der einer Intrige von Philipp Amthor und den Beastie Boys zum Opfer gefallen war, hatte sich aus der Politik zurückgezogen und ein Kinderbuch geschrieben, das mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet wurde. Das Preisgeld von 545.000 Euro spendete er der Stiftung Lesen. Das Buch trug den Titel: „Der kleine Pascha“ und war seit Monaten auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Bottrops Kulturaktivist Nr. 1, Dirk Helmke, war es gelungen, Merz für eine Lesung in die Kulturkirche einzuladen. Die Veranstaltung unter dem Titel „Die Iden des Merz. Vom Saulus zum Paulus“ war bereits nach einer Stunde ausgebucht. Herr Blum konnte sich eine Karte sichern und freute sich auf die Lesung am heutigen Abend.
Seitdem das Bürgerbegehren „Neustart Bottrop“ seinerzeit das Verwaltungs-Mausoleum mit großer Mehrheit verhindert hat. Wird in Bottrop häufiger direkte Demokratie praktiziert.
Eine attraktive Japanerin, Mitte Dreißig, erweckte Herrn Blums Aufmerksamkeit. Sie saß auf der andren Straßenseite, dort, wo bis Ende 2024 die italienische Weinbar residierte, befand sich nun die „Happy Hanf Bar“. Betreutes Kiffen mit Sankt Martin, den viele noch aus der Weinbar kannten, war besonders bei Senioren sehr beliebt.
Nachdem das „Daikychi“, dass sich seit 2024 zirka 80 Meter von der „Happy Hanf Bar“ entfernt auf der Gastromeile befindet, von einem Gastromagazin zur besten Sushibar Deutschlands gekürt wurde, ist die Anzahl japanischer Touristen in Bottrop deutlich gestiegen.
Die Japanerin bemerkte Blums Blick und antwortete mit einem schüchternen Lächeln. Ihre Zunge glitt verführerisch über die Klebeflächen des Zigarettenpapiers, welches sie zu einem Joint zusammendrehte. Leopold Blum fragte sich, was wohl seine Libido so trieb? Nachdem sie vor einigen Jahren in den Vorruhestand nach Florida ausgewandert war, hatte er von ihr nichts mehr gehört.
Oliver Helmke stiefelte vorbei und löste Blums Aufmerksamkeit von der hübschen Japanerin, die gerade ihren Joint aufglühen ließ und die Kirchhellener Mischung inhalierte. Der Bottroper Immobilien-Tycoon trug eine karierte Schiebermütze und erinnerte Blum irgendwie an Nick Knatterton. Helmke war in den letzten Jahren ein spektakulärer Deal gelungen, als er zufällig in einer Bar in Ischgl Jeff Bezos (Amazon) traf. Der Projektentwickler Helmke erinnerte sich an ein Konzept von „wat gibbet“ für ein digital/analoges Kaufhaus und erzählte Bezos davon, dem gefiel die Idee. Der Rest ist Erfolgsgeschichte. Übrigens, Bezos ließ die ursprüngliche Warenannahme wieder herstellen und das Hotel flog raus. Seitdem sind die Althoff-Amazon-Arkaden ein Mekka für alle Amazon-Fans in ganz NRW.
Apropos Mekka, auch die Lösung fürs Hansa-Center war am Ende so einfach wie genial. Man musste nur …
Etwas Feuchtes tätschelte Herrn Blums Hand, die noch immer auf der Melone lag. Leo Blum schlug die Augen auf. Eine Bulldogge leckte seine Finger und versuchte an seine Melone zu gelangen. Frauchen tauchte auf und zog den Hund weg.
„Tschuldigung, unser Brutus mag wohl ihren Bowler. Haha, Sie waren kurz eingenickt, ihr Schnarchen nicht zu überhören.“
Herr Blum war leicht desorientiert. Er schüttelte den Kopf, um den Nebel aus seinem Verstand zu vertreiben und richtete sich langsam auf. Die Bulldogge saß nun brav neben ihrem Frauchen und beobachtete Herrn Blum mit ihren treuen Augen. Er lächelte und wischte sich mit einer Serviette den Sabber von den Fingern.
„Kein Problem“, antwortete er, während er seine Hand trockenwischte. „Brutus scheint meine Melone wirklich zu mögen. Und das Schnarchen entschuldige ich auch. Ich muss gestehen, ich habe nicht viel Schlaf bekommen in den letzten Nächten.“
Frauchen nickte verständnisvoll. „Das kenne ich nur zu gut. Mein kleiner Wonneproppen hier schnarcht auch ganz schön. Übrigens, mein Name ist Anna“, stellte sie sich vor und streckte ihre Hand aus. Herr Blum schüttelte Anna verlegen die Hand. „Freut mich, Anna. Mein Name ist Leopold Blum. Äh, möchten Sie sich vielleicht setzen?“
Anna zog eine Augenbraue hoch und grinste: „Danke, sehr gerne.“
Anna sah aus wie ein Fotomodell, sie erinnerte Herrn Blum an die junge Grace Kelly, das lange, blonde Haar, die strahlend blauen Augen, die makellose Haut und die perfekt geschnitten Gesichtszüge. Zu perfekt. Irgendwas stimmte hier nicht.
Anna bemerkte seine Irritation. „Sie haben es bemerkt!“
„Äh, was meinen Sie?“
„Die Designer haben es mit dem „Golden Schnitt“ leicht übertreiben. Ich wirke zu perfekt.“
„Na, dann sollten Sie vielleicht ihren Schönheitschirurgen verklagen.“
Anna musste grinsen. „Ich bin ein Host, der Prototyp eines Androiden, entwickelt von der Delos Inc. Und Sie wurden auserwählt, mich 4 Wochen lang kostenlos zu testen. Sie müssen nur eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Was sagen Sie, wie lautet Ihre Antwort?“
Herr Blum hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Eine Panikattacke? Ein Schlaganfall? Vielleicht surfte sein Bewusstsein immer noch auf einer Thetawelle? Kann man in Traum träumen?
„42, meine Antwort lautet 42!“
When I was just a little boy
I asked my mother, what will I be
Will I be pretty? Will I be rich?
Here’s what she said to me
Qué será, será
Whatever will be, will be
The future’s not ours to see
Qué será, será
What will be, will be
(Jay Livingston / Ray Evans)
Udo Schucker
Lesen Sie hier, wie Amazon die Bottroper City retten könnte: https://wat-gibbet.de/wie-amazon-die-bottroper-city-retten-koennte/