Die Zukunft hat Vergangenheit – Teil 2
Vom Kaufhaus Karstadt zur Phoenix Galerie – Im Untergrund mit Eddy Merckx und Rudi Altig
Ich stehe im „Death Valley“ des Bottroper Einzelhandels, am Karstadt-Monument. Mit der Filmemacherin Karolina Köster und Marcel Wiesten, Geschäftsführer der Phoenix Bottrop GmbH, bin ich zum nächsten Videodreh verabredet, gespannt, welche „Stunts“ sie mir diesmal unterjubeln.
Der Himmel über Bottrop trägt heute ein sensationelles Azurblau, so hoffnungsvoll, als hätte jemand dem Ruhrgebiet den Farbfilter „Optimismus“ verpasst. In meinem Kopf läuft ein Song von „Black“ aus den 1980ern: „No need to run and hide. It’s a wonderful, wonderful life …“
Ich summe mit, treffe nicht alle Töne, aber dafür alle Erinnerungen. Das alte Karstadt-Gebäude wirft einen Schatten auf die Hansastraße, so scharf, als hätte jemand mit dem Cutter durchs Pflaster gezogen. Vampire sollten hier auf die Lichtkante achten: ein unvorsichtiger Schritt und schon gibt’s Sonnenbrand in der Variante „Asche zu Asche“.
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Vampire in Bottrop
1974 veranstaltete ich vor Karstadt ein Happening, eine Nonsensdemo mit rund 30 Teilnehmern: „Hilfe für die bedrohte Vampirwelt“. Transparente, Megafon, der ganze Biss. Wir verteilten Flugblätter, führten Interviews – erstaunlich viele Passanten zeigten Verständnis für diese untote Lebensweise und boten spontan Blutspenden an. Bottrop, Stadt der stillen Reserven.
Heute wäre das wohl eine schräge Werbeaktion mit Logos und Hashtags. Damals wollten wir nur unsere dadaistische Ader pulsieren lassen und Spaß haben.
Plötzlich schießt ein Radfahrer aus dem Schatten, bremst auf Null und fast auf mir. Ich drehe am Rad … der Zeit – und bin wieder studentische Hilfskraft bei Karstadt im Jahre 1987.
Unter Tage bei Karstadt
Die Fahrradwerkstatt lag unten an der Rampe, links neben Warenannahme und Versand, erreichbar über die Zufahrt an der Poststraße. Offiziell Untergeschoss, gefühlt Subkultur.
Der einzige Mitarbeiter dort fiel drei Wochen aus; Ersatz gab es intern nicht. Als Student habe ich oft bei Karstadt gejobbt. Frau Bartsch aus der Personalabteilung rief an, ob ich Zeit hätte, mich mit Fahrrädern auskenne und notfalls auch selbst reparieren könne. Konnte ich. Und der Untergrund nickte.
Als Kind hatte ich mit meinem Großvater meine ersten beiden Fahrräder aus Schrott und Ehrgeiz zusammengebaut, bevor das erste fabrikneue Rad von „Zweirad Beelert“ kam, Luxus auf zwei Rädern. Damals konnte ich ein Fahrrad komplett zerlegen und wieder zusammensetzen; heute bringe ich immerhin noch einen Reifen zum Platzen.
Die Ampel steht auf Rot
9:27 Uhr. Ich bin spät dran. Durch den Personaleingang hetze ich Richtung Tunnel, der zur Warenannahme führt. Gabriel, der Pförtner, winkt mir kurz zu. „Auch mal wieder im Haus!“, ruft er mir hinterher.
Ich hebe die Hand, winke zurück, renne weiter, bis mich die rote Ampel abrupt ausbremst.
Ein neuer Rekord
Rot bedeutet: Tunnel gesperrt. Der Grund? Klärt sich in Sekunden.
Da ist er schon: Tunnelfahrer Günni, den unsere Stammleser längst kennen, brettert mit Vollgas heran. Zehn Paletten schwingen am Haken seiner Zugmaschine – eine rollende Fracht auf Hubwagen, die hier „Ameisen“ heißen. Holz splittert, Eisen kreischt an den Leitplanken. Günni tritt auf die Bremse, parkt die Ladung und ruft triumphierend: „Hasse gesehen? Zehn Stück – neuer Rekord!“
Ich lasse die Ampel auf Rot, horche, ob noch Nachzügler im Tunnel anrollen, dann laufe ich durch den Tunnel zur Warenannahme, wo sich auch die Fahrradwerkstatt befindet.
Eine kleine Halle taucht vor mir auf, hier können drei Lkw gleichzeitig an die Rampe, während zwei oder drei Mitarbeiter flink entladen. Vormittags pulsiert das Leben: Paletten rollen, Stimmen hallen. Nachmittags kehrt Ruhe ein. Ich schalte die Ampel wieder auf Grün, Tunnel frei.
Neben den Flächen für die Lkw liegen etwa 40 Kundenparkplätze. Über die Hebebühne schaffen die Kunden ihre Einkäufe direkt in den Kofferraum ihres Pkw.
Das Warenlager selbst? Befindet sich in einer riesigen Halle am Südring, wo das Herz der Logistik schlägt.
Der Geruch von Gummi am Morgen
9:34 Uhr. Ich betrete die Fahrradwerkstatt. Mir schlägt der Geruch von frischem Gummi entgegen – kein Napalm, kein Drama, nur Schlauch und Möglichkeiten. Eine Treppe an der Rampe führt Kunden direkt in die Werkstatt.
Mein Job: Fabrikneue Räder verkaufsfertig machen, Kundinnen und Kunden behandeln, manche brauchen nur Luft und ein Pflaster, andere eine Transfusion aus Geduld und Öl.
Eine ältere Dame schiebt ihr Hollandrad herein, Vorderreifen platt. 26 Zoll. Ich tausche den Schlauch, kassiere nur das Ersatzteil, weil mir keiner gesagt hat, wie die Arbeitszeit berechnet wird. Sie zahlt, lächelt dankbar und verspricht, uns weiterzuempfehlen.
Tunnelrennen mit Eddy und Rudi
Am Nachmittag ist es ruhig, fast langweilig. Ich habe alle neuen Räder vorbereitet, will gerade ein paar davon durch den Tunnel zur Heimwerkerabteilung bringen, als Günni heranrollt: „Wie wär’s mit ’nem Rennen? Ich mach den Eddy Marx!“
„Heißt der nicht Merckx *?“, frage ich.
Günni zuckt mit der Schulter.
Hausinstallateur Heinz Kubis kommt dazu: „Und ich den Altig – Rudi Altig *“.
Drei Männer, drei Egos, drei Räder. Versandleiter Blum gibt den Startschuss: Ampel auf Rot.
Wir treten an, als jagte uns eine Zombiehorde. Ich bin kurz vorneweg, führe das Feld – aber nur für einen Moment. Dann rauscht „Rudi Altig“ an mir vorbei, dicht gefolgt von „Eddy Merckx“, der mit unverschämter Power aus dem Windschatten schießt und gewinnt. Klarer Fall von Doping.
Ich trete in die Rücktrittbremse – doch nichts passiert. Die Wand kommt immer näher. Verdammt, Rennrad! Keine Rücktrittbremse!
Ich drücke mit voller Kraft die Felgenbremse, die ich vorhin noch justiert hatte. Endlich steht das Rad. Saubere Arbeit, denke ich.
Da öffnet sich der Lastenaufzug. Der Geschäftsführer tritt heraus. Seine linke Augenbraue formt sich zu einem akzentgenauen Zirkumflex.
„Sicherheitsüberprüfung“, sagt Merckx.
„Genau, bevor die Bikes in den Verkauf gehen…“
„…und die Räder stillstehen“, ergänzt Altig.
Time Tunnel *
Der Chef wünscht uns einen schönen Feierabend und verschwindet im Tunnel. Die Ampel bleibt auf Rot.
Plötzlich erscheinen Pedelec-Fahrer im Tunnel. Die Wände leuchten, scheinen sich zu bewegen. Ändern die Farbe. Vielleicht Immersive Kunst?
Being Olly Helmke *
Offenbar hat mich das große Quantenfeld in eine Zukunftsvision der Phoenix Galerie katapultiert – erschaffen von Immobilienentwickler Oliver Helmke und seinem Team. Dort, wo früher Paletten auf den Lastenaufzug warteten, steht jetzt eine Fahrradstation mit Dutzenden Stellplätzen und Ladesäulen.
Radfahrer rollen direkt von der Poststraße in die Phoenix Galerie, parken sicher und verstauen ihre Helme in Spinden. Eine Retro-Schuhputzmaschine bürstet auf Wunsch den Staub von den Schuhen, bevor es mit dem Aufzug nach oben geht.
Ich schreite durch den „Time Tunnel“. Vor der ehemaligen Warenanlieferung breiten sich an die 100 Pkw-Stellplätze aus. Wer will, schlendert gemütlich zu Fuß durch den Tunnel hinein in die Phoenix Galerie.
Die alte Warenannahme? Heute ein lebendiger Eventort – Flohmarkt, Kunstmarkt, Markt der Möglichkeiten, vielleicht die Spielwiese einer neuen Avantgarde.
Eine Fahrradklingel reißt mich aus dem Fluss meiner Gedanken.
Zurück im Jetzt
„Schau mal, Udo, was wir für dich haben“, ruft Marcel triumphierend und hebt kurz einen alten Drahtesel hoch.
„Damit darfst du gleich durch den Tunnel düsen“, sagt Karo mit süffisantem Lächeln.
„Hab über dreißig Jahre nicht mehr im Sattel gesessen“, murmele ich skeptisch.
„Einmal Cowboy, immer Cowboy“, entgegnet sie lachend.
„Na dann – gehen wir in den Untergrund. Die Zukunft lauert schließlich überall.“
Udo Schucker
Lesen Sie zum Thema Karstadt auch unsere neue Rubrik mit zahlreichen Beiträgen: vom Kaufhaus Karstadt zur Phoenix Galerie
* Eddy Merckx (* 17. Juni 1945) ist ein ehemaliger belgischer Radrennfahrer. Er gewann je fünf Mal die beiden wichtigsten Rundfahrten, die Tour de France und den Giro d’Italia.
* Rudi Altig (* 18. März 1937 † 11. Juni 2016) war ein deutscher Radrennfahrer. Er wurde sowohl auf der Bahn als auch auf der Straße Weltmeister.
* „Time Tunnel“ ist eine US-amerikanische Science-Fiction-Serie aus den Jahren 1966/67, in der es um Zeitreisen geht.
* Being Olly Helmke ist eine Anspielung auf den Spielfilm „Being John Malkovich“ aus dem Jahre 1999. Das Drehbuch schrieb Charlie Kaufman.
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Oberbürgermeister Bernd Tischler mit Detlef Lichtrauter Bildrechte: Stadt Bottrop