Die Zukunft hat Vergangenheit – Teil 1
Vom Kaufhaus Karstadt zur Phoenix Galerie – Erinnerungen und Ufo-Sichtungen im Innenhof
„Hast du nicht auch mal als Student hier an der Müllpresse gearbeitet?“, fragt mich der „Holländer“. Sein Blick tastet die Mauern ab, als könne er die Schatten von damals in den Ritzen finden. Ich nicke nur. Ein kleines, wehmütiges Lächeln huscht mir über das Gesicht.
Wir stehen am Bottroper-Bier-Stand im Karstadt-Innenhof. Dort, wo einst die Müllpresse brummte, sich Lkw einfädelten und Mitarbeiter den Hof als Hinterbühne des Kaufhauses für kleine Pausen nutzten, drängen sich nun interessierte Bürger.
Projektentwickler Oliver Helmke hat eingeladen, seine Pläne zur Phoenix Galerie vorzustellen. Bunte Schaubilder hängen an Stellwänden, Modelle zeigen neue Nutzungen, und die Gespräche sind voller Neugier und Aufbruchsstimmung. Für einen Moment überlagern die Stimmen im Hof jedoch etwas anderes: mein eigenes Echo aus der Vergangenheit.
Zurück ins Jahr 1989
Ein Atemzug, und ich bin wieder dort: Sommer 1989.
Ich sitze im Aufenthaltsraum direkt neben der dumpf brummenden Müllpresse. Der Raum ist karg – ein Tisch, der schon bessere Tage gesehen hat, ein wackeliger, durchgesessener Stuhl, ein schwarzes Telefon mit träger Wählscheibe. Am nikotingelben Fenster steht ein Kofferradio, Relikt seiner Zeit, die Plastikknöpfe fettig-glänzend vom vielen Drehen.
Zigarettenrauch hängt schwer in der Luft, schneidet die spärliche Beleuchtung in träge Streifen. Mitarbeiter nutzten den Raum für kurze Raucherpausen, in denen ein eigener Ritus lag: kurzes Verschwinden aus dem Verkaufsgetriebe, hinein in eine kleine Insel mit Qualm und Kaffeebecher – schmuddelig, aber ehrlich. Manche Kollegen huschen herein und wieder hinaus, als seien sie selbst Rauchschwaden.
Der Dienst ist eintönig. Ich fege den Hof, warte auf die Lkw, die durch das eiserne Tor rollen, steuere sie mit Handzeichen ein, füttere die Müllpresse im Rhythmus der Ladungen. Am späten Nachmittag dann der ungeliebte Teil: vor den Schaufensterfronten fegen, unübersehbar für Passanten. Eine Tätigkeit, die am Selbstwertgefühl kratzt, von Studenten nicht gerade geliebt.
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Friede, Freude, Eierkuchen
An diesem Sommertag tönt plötzlich eine krächzende Radiostimme in den Hof. Ein Mann, der sich Dr. Motte nennt, erzählt von einer Demonstration in Berlin, Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“. Was damals so spielerisch klang, wird später als erste Loveparade der Geschichte in Erinnerung bleiben.
Kaum bricht die Stimme ab, verwandelt sich das Kofferradio in eine Musikbox. „Good Life“ pumpt aus den Lautsprechern – der Song von „Inner City“ verleiht dem Innenhof unerwartet Schwung. Ich drehe lauter. Genau in diesem Moment torkelt „Günni“, der Tunnelfahrer*, aus dem Lastenaufzug, eine Fuhre für die nimmersatte Presse im Gepäck. Er grinst, holt eine Bierdose aus der Tasche und wirft sie mir zu. Gemeinsam lassen wir das warme Gebräu zischen, bewegen uns im Rhythmus des Beats. Für Minuten sind wir Tänzer, nicht Arbeiter.
Elvira aus der Parfümerie beobachtet uns lachend. „Seht euch die Bekloppten an!“, ruft sie, nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und schwingt dann selbst lässig die Hüften.
Der Supergau für mein Ego
Kurz vor Feierabend wird‘s noch einmal unangenehm. Mit dem Besen in der Hand fege ich draußen vor den großen Schaufenstern. Passanten mustern mich wie eine Randfigur. Das Selbstwertgefühl hängt schief, der Job fühlt sich plötzlich wie eine große Blöße an. Hoffentlich erkennt mich keiner.
Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehe mich um – Birgit, meine Exfreundin. Ihr Blick schwankt zwischen Wiedererkennen und Befremden. Ein stummer Augenblick, als bliebe die Zeit stehen. Der Supergau: ertappt beim Besenschwingen.
Ich könnte lügen, mir eine Rolle erfinden wie ein Reporter inkognito. Doch ich höre mich sagen: „Ich hatte die Wahl: alten Damen Lebensversicherungen mit einer Laufzeit von 40 Jahren aufschwatzen oder ehrlich die Straße fegen. Ich habe mich fürs Fegen entschieden.“ Ein Satz, so schlicht wie schwer.
Zurück ins Heute
Jetzt, Jahrzehnte später, stehe ich wieder hier. Doch der Hof atmet anderes Leben. Stände mit Getränken, Menschen, die tuscheln, Fragen stellen, Ideen diskutieren.
Auf den Plänen Helmkes spannt sich ein Dach aus hellen Stoffsegeln über die Fläche, Container sind als kleine Läden oder Ateliers gedacht, eine Spielecke für Kinder, eine Schirmbar im Zentrum und Weihnachtszauber im Winter. An der Fassade soll Kunst erblühen – farbig, auffällig, ein Signal der Verwandlung.
Ich betrachte das Gerüst aus Möglichkeiten und sehe gleichzeitig den grauen Hof meiner Erinnerungen. Ich stelle mir vor, wie auf denselben Steinen ein Ballettensemble Strawinskys „Feuervogel“ aufführt, wie Kabarettisten unter freiem Himmel Menschen zum Lachen bringen.
In meiner Fantasie lässt eine Lasershow ein Ufo am Himmel erscheinen, und Artisten vom „Cirque du Soleil“ seilen sich von der Fassade ab, schweben leichtfüßig ins Publikum, verwandeln das Gemäuer in Bühne, Zirkuskuppel und Theater zugleich.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft entsteht ein eigenartiger Gleichklang. Der Hof war einmal funktionaler, fast trostloser Hinterhof, und zugleich Kulisse kleiner Revolten – tanzend, lachend, rauchend. Nun soll er ein öffentlicher Raum werden, offen für Kultur, Fantasie und Begegnungen der dritten Art.
Ein Prost auf die Patina
„Prost!“ Ich stoße mit dem „Holländer“ an. Das dunkle Bier schmeckt nach Erinnerung – Patina, die das Gestern in funkelnde Erzählungen verwandelt.
Ich lehne den Kopf zurück, sehe in den Himmel und fühle, wie sich über mir schon das imaginäre Dach aus Segeln spannt. Vielleicht entsteht hier mehr als nur eine Eventlocation. Vielleicht wird an diesem Ort, genährt von Erinnerungen, eine neue Mitte wachsen – lebendig, wandelbar, kulturell vibrierend.
Die Zukunft hat Vergangenheit. Und vielleicht ist es gerade diese Vergangenheit, die ihr Glanz verleiht. Hier, im Innenhof, beginnt der Tanz.
Udo Schucker
* Der Tunnelfahrer war dafür verantwortlich, mit einer Zugmaschine beladene Wagen von der Warenannahme durch einen langen Tunnel in den Vorraum des Lastenaufzugs zu befördern. Von dort aus wurden die Waren an die einzelnen Abteilungen weiterverteilt. Häufig bildeten mehrere aneinandergekoppelte Wagen kleine Züge, die ratternd den engen Tunnel durchquerten.
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