Hansa-Center Bottrop – die große Illusion

ESTRAGON und VLADIMIR sitzen auf einer Bank. ESTRAGON entdeckt einen losen Faden an seinem Pullover, zieht dran und löst so Teile seines Pullovers auf…

ESTRAGON (lässt den Faden los)
Ich lös´ mich auf.

VLADIMIR (liest die WAZ, blickt auf)
Die Welt löst sich auf.
(längere Pause)
Das Hansa-Center soll jetzt 2024 eröffnen. Nach 12 Jahren.

ESTRAGON
Haha. Anstatt noch mehr Geld sollten die besser Semtex in die Bauruine stecken.

VLADIMIR
Aber bitte ohne öffentliche Ausschreibung. Sonst muss die Stadt wieder den billigsten Anbieter wählen und der Sprengmeister ist insolvent, noch bevor der Bau hochgeht.

ESTRAGON
Die Stadt hat damit nix zu tun. Der Bau gehört einer Immobiliengesellschaft oder so.

VLADIMIR
Ah, und in der Blase gilt das Vergaberecht für öffentliche Aufträge nicht?

ESTRAGON
Glaub nich‘. Die entscheiden nach wirtschaftlichen Aspekten.

VLADIMIR
Also der billigste Bauunternehmer bekommt den Zuschlag?

ESTRAGON
Hin und wieder.

VLADIMIR
Hätten sich die Verantwortlichen seinerzeit anders entschieden, wäre jetzt vielleicht Leben in der Bude.

ESTRAGON
Es gibt kein richtiges Leben im falschen…

VLADIMIR
Aber in 2 Jahren geht’s ja jetzt endlich los, mit 8 Kinos und viel Cyberspace.

ESTRAGON
8 Kinos, dass ich nicht lache! Die gesamte Kinobranche ist auf dem absteigenden Ast. Hollywoods Blockbuster werden immer öder. Jeder hat einen Ultra-HD-Fernseher zu Hause, der teilweise eine bessere Bildqualität bietet als so mache Kinoleinwand.

VLADIMIR
Die Bottroper wollen ein Kino, kann man auf Facebook nachlesen. Und der Investor wird ja eine Marktanalyse gemacht haben, sonst kommt man ja nicht auf so eine Idee, oder?

ESTRAGON
Der Investor kommt wahrscheinlich aus dem Cyberspace. Frage ich den gemeinen Bottroper: Willst du ein Kino? Dann sagen vermutlich alle JA.
Frage ich aber: Lieber Bottroper, würdest du in ein Mini-Kino gehen, wenn du denselben Film zeitgleich für weniger Geld in perfekter Qualität auf deinem OLED-Fernseher bequem zu Hause streamen könntest. Na, was wäre dann die Antwort?

VLADIMIR
Äh… Keine Ahnung. Menschen sind nun mal soziale Wesen, brauchen das Gemeinschaftsgefühl.

ESTRAGON
Ellenlange Werbeblöcke im Vorprogramm. Leute, die während der Vorführung quasseln oder mit Chips-Tüten rascheln. Teenager, die neben dir laut schmatzend herumknutschen. Kerle mit penetrantem Aftershave-Duft, die hinter dir sitzen. Ganz schlimm, wenn sich dann auch noch eine Dame mit Hochsteckfrisur direkt vor dir platziert und dir ’nen blinden Fleck verpasst.

VLADIMIR
Du bist ja auch kein soziales Wesen.

ESTRAGON
Ich bin, was der Autor aus mir gemacht hat.

VLADIMIR
Immer nur warten. Keiner kommt.

ESTRAGON
Die Bottroper haben eigentlich Glück im Unglück mit ihrer Bauruine. Der größte Teil von dem Bauschrott ist gar nicht sichtbar, wird durch die Gebäude drum rum verdeckt. Man muss also nur die sichtbaren Fassaden abdecken.

VLADIMIR
Wie, Verhüllung is‘ nich‘, Christo und Jeanne-Claude sind im Nirwana.

ESTRAGON
Das wäre was für die Telekom mit ihrem großen Herzen aus 5G. Vor die beiden sichtbaren Fassaden sponsern die einfach ein riesiges LED-Display mit 3D-Effekt. Hier kann man dann jede gewünschte Fassade anzeigen. Oder Reklame. Oder viele Menschen, die einem zuwinken. Unendliche Möglichkeiten.

VLADIMIR
Die Telekom? Die Funklöcher kriegen die nicht gestopft, aber jetzt digitaler Fassadenbau?

ESTRAGON
Die haben für so was einen Etat. Innovation City weitergedacht.

VLADIMIR
Bottrops schwarzer Platz wird zum Time Square, warum nicht! Und zu Neujahr erscheint der Kopf vom Oberbürgermeister, riesengroß und hält seine Ansprache.

ESTRAGON
Nein, das macht er nicht. Wir schreiben ja nicht mehr 1984. Das Projekt könnte man potemkinsches Dorf 4.0 nennen.

VLADIMIR
Na ja, der Mensch braucht die Illusion. Er weiß, der Schein, den er liebt, der trügt, aber er liebt ihn trotzdem.

ESTRAGON
Vladi, der Philosoph. Nach und nach vergisst so der gemeine Bottroper die Bauruine und die Illusion wird zur Banalität.

VLADIMIR
Eine Schnittmenge aus virtueller und analoger Realität: Bottrop 4.0.

ESTRAGON
Mehr schicke, kleine Fachgeschäfte kommen so aber auch nicht in die Stadt.

VLADIMIR
Die kommen so oder so nicht, zu wenig Kaufkraft. Die Bottroper müssen sich mal der Realität stellen und über die analoge Welt hinaus denken. Sonst wird dat nix.

ESTRAGON (wendet sich ans Publikum)
Hey, kann von euch vielleicht mal einer mit der Telekom reden!

VLADIMIR
Aber vielleicht klappt das ja doch mit 2024.

ESTRAGON
Und wenn nicht?

VLADIMIR
Dann warten wir bis 2030!

ESTRAGON nimmt den losen Faden an seinem Pullover wieder auf und zieht dran…

ESTRAGON
Ich lös´ mich auf.

VLADIMIR
Illusionen lösen sich auf, wenn man dran zieht.

ESTRAGON
Sollen wir ins Kino?

VLADIMIR
Welches Kino?

ESTRAGON
Bottrop hat ein nettes, kleines Lichtspieltheater, nennt sich Filmforum.

VLADIMIR
Ach. Und wat gibbet da heute?

ESTRAGON
’nen Klassiker von Jean Renoir: DIE GROSSE ILLUSION.

Auf der Bühne geht das Licht aus! DUNKELHEIT.