Fachoberschule 77
Ein Beitrag aus der Reihe „Bottroper Jugend in den 1970er Jahren“ über die Fachoberschule Bottrop und wie Schuldirektor Dr. Dieter Krampe meinen Film rettete.
Ich stehe an der Berufsschule Bottrop, die heute Berufskolleg der Stadt Bottrop heißt. Es ist ein goldener Oktobertag. Der Wind bläst mit Laub ins Gesicht. Eine Böe schüttelt in meinem Oberstübchen ein paar Erinnerungen aus dem Regal.
Das Berufsschulgebäude mit seinem großen Lichthof wurde 1929 errichtet. Ich habe mir in meiner Jugend immer vorgestellt, Albert Sperr hätte hier seine ersten Gehversuche gemacht und der Bildhauer Arno Breker hätte die Figuren am Eingang erschaffen. Damals hatte der Bau für mich so ein nationalsozialistisches Fluidum. Aber diese funktionalen roten Backsteinbauten der Bauhausära wurden in 1920er Jahren wohl in vielen Ruhrgebietsstädten errichtet. Und weder Arno Breker noch Albert Speer, Hitlers Baumeister für den architektonischen Größenwahn der Nazis, hatten damit etwas zu tun.
Jugendtanzabende und Karnevalssitzungen
Die Berufsschule ist nicht nur Bildungsstätte, ihr Lichthof war über einige Jahrzehnte auch ein kulturelles Zentrum der Stadt. Unvergessen die Jugendtanzabende mit DJ Mal Sondock. Es gab Rock- und Klassikkonzerte, Sportveranstaltungen aller Art oder legendäre Karnevalssitzungen, auf denen die Hautevolee regelmäßig die Hüllen fallen ließ. Mit dreizehn war ich das erste Mal auf einem Jugendtanzabend und geriet gleich in eine Massenschlägerei zwischen Batenbrockern und Welheimern. Ich erinnere mich an Konzerte mit Shocking Blue, Wonderland oder Udo Jürgens.
Ich drückte in den 1970er Jahren hier die Schulbank, zuerst als Berufsschüler, legte hier meine Gesellenprüfung als Sanitärinstallateur ab und kehrte nach einem Gesellenjahr als Fachoberschüler wieder zurück. Die Lehrkräfte von einst, ich sehe sie noch vor mir: Herr Pläsken, Simmler, Lettmann, Thiemann, Papa Nolte, Pfarrer Heiermann, Chemielehrer Schepers, bei dem wir Alkohol destillieren durften, und natürlich unseren Direktor, Dr. Dieter Krampe, der 1977 die Dreharbeiten zu meinem Spielfilm „Der werkenden Jugend, dem wirkendem Volke“ gerettet hat.
Dr. Hans-Dieter Krampe – der Sheriff
Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Hans-Dieter Krampe übernahm Im Jahr 1965 die Leitung der Städtischen Berufs- und Berufsfachschulen in Bottrop und wirkte in dieser Position bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1992. Er initiierte die Einrichtung von neuen Bildungsgängen an den Berufsbildenden Schulen, wie zum Beispiel dem Fachgymnasium für Wirtschaft und dem Fachabitur. Er war Träger des Bundesverdienstkreuzes und zahlreicher andere Auszeichnungen. Krampe war töfte, wie wir hier im Ruhrgebiet sagen, engagiert, humorvoll, durchsetzungsstark, manchmal laut, aber immer mit einem offenen Ohr für die Belange seiner Schüler. Und weil Hans-Dieter Krampe bevorzugt Hüte mit breiter Krempe trug, die an Cowboyhüte erinnerten, nannten wir ihn Sheriff.
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Die Fachoberschule – Pilgern auf dem Bildungsweg
Das System der Fachoberschule wurde erst Ende der 1960er Jahre eingeführt. Auch auf Druck der damaligen Studentenbewegung. Dieser Bildungsweg bot plötzlich Menschen jeden Alters die Möglichkeit, das Fachabitur (Klasse 10 bis 12) zu erlangen. Und dass wir hier in Bottrop eine Fachoberschule bekamen, war maßgeblich auch dem SPD-Genossen Hans-Dieter Krampe zu verdanken. Als unter Bundeskanzler Willy Brandt 1971 auch noch das BAföG eingeführt wurde, gab es einen regelrechten Run. Viele jüngere Menschen kehrten ihrem erlernten Beruf den Rücken, brachen aus der Tristesse ihres Berufsalltags aus und machten sich auf den zweiten Bildungsweg. Bildung bedeutete damals ein Stück Freiheit und gesellschaftlicher Aufstieg. Für viele war aber auch einfach nur der Weg das Ziel.
Bewusstseinserweiternde Substanzen – didaktisch praktisch
Eigentlich wollte ich ja direkt mein Vollabitur am Westfalen-Kolleg in Dortmund nachholen – ging aber nicht, das Kolleg war ein Institut der Erwachsenbildung, das Mindestalter für die Aufnahme dort betrug seinerzeit 21 Jahre. Ich war erst 19 Jahre alt und hatte bis dato bereits 5 Jahre als Handwerker am Bau gearbeitet. Doch das Leben ist kurz und ich wollte mich nur noch mit Dingen beschäftigen, die mich auch wirklich interessierten. Ich hatte einen Plan.
Also beschloss ich, die Wartezeit zu überbrücken und die Fachoberschule zu besuchen. So hatte ich auch mehr Zeit für mein nächstes Filmprojekt, dessen Thema ich gerade suchte und das ich schließlich in der Fachoberschule finden sollte. Eigentlich wollte ich damals nur Drehbücher schreiben, Filme machen und wilde Partys feiern. Und genau das tat ich.
Meine Mitschüler kannte ich zum Großteil aus der 70er-Jahre-Szenekneipe „Bistro/Piccadilly“, wo wir auch fast täglich miteinander abstürzten. Einer meiner Klassenkameraden, Axel Wittmann, arbeitete dort zeitweise als Kellner. Und ein anderer Mitschüler, Harald Richter, den ich noch von der Hauptschule kannte, spendierte der Klasse 10 der Fachoberschule Bottrop regelmäßig Joints. Ich mein, da ging man natürlich gerne morgens zur Schule. Die Lehrkräfte wunderten sich über so viele fröhliche Schüler und deren rege Beteiligung am Unterricht. Und da Lachen bekanntlich ansteckend ist, war eine Unterrichtsstunde in der Klasse „FOS 10 c“ für gestresste Lehrkräfte gar stimmungsaufhellend.
Nur einmal haben wir es etwas übertrieben. Deutschlehrer Nolte erzählte einen drögen Witz und die halbe Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Einige bekamen regelrechte Lachkrämpfe und mussten den Klassenraum verlassen. Das machte Herrn Nolte dann doch etwas stutzig, normalerweise lachte niemand über seine Witze.
Wie ich versehentlich Schulsprecher wurde
Die Wahl zum Gesamtschulsprecher stand an. Zum Verwaltungsbereich der Berufsschule gehörten neben der Fachoberschule auch die Berufsfachschule und die Handelsschule, welche sich seinerzeit zusammen mit der Berufsfachschule in den Räumen des ehemaligen Mädchengymnasiums am Rathausplatz befand.
Ich glaube, Harald Richter war damals Klassensprecher und ich sein Stellvertreter. Jedenfalls wurden wir zur Wahl des Gesamtschulsprechers abkommandiert, hatten aber keine große Lust auf die Veranstaltung und rauchten erst mal einen Joint. Wir kamen einige Minuten zu spät und in bester Stimmung in den überfüllten Besprechungsraum der Schülermitverwaltung. Die Kandidaten malträtierten die versammelten Klassensprecher mit langweiligen Wahlreden. Ein Kandidat der „Jungen Union“ entwickelte besonderen Ehrgeiz und versprach den Versammelten, dafür zu sorgen, dass immer genug Toilettenpapier vorhanden ist. Kollektives Schnarchen. Plötzlich rief jemand meinen Namen …
Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits einige Filme gedreht, die Presse berichtete regelmäßig über meine Aktivitäten und ich genoss etwas Popularität. Eigentlich bin ich ja eher der introvertierte Typ, mag es nicht, mich zu exponieren, doch der „schwarze Afghane“, den wir zuvor auf der Toilette inhaliert hatten, entfaltete seine Wirkung. Ich war plötzlich von einer Eloquenz beseelt, wie nie zuvor. Ich wollte reden, ich musste reden, ich redete und wurde mit großer Mehrheit zum Gesamtschulsprecher gewählt, obwohl ich als Kandidat gar nicht aufgestellt war. Ich hatte keinen Plan, bot an diesem Tag wohl einfach nur den größten Unterhaltungsfaktor.
Filmpremiere im Lichthof
Am nächsten Tag realisierte ich allmählich, in welche Situation ich mich da manövriert hatte. Der Posten als Schulsprecher brachte Verpflichtungen mit sich, auf die ich so gar keinen Bock hatte, die ich allerdings geschickt an meinen Stellvertreter delegieren konnte. An seinen Namen kann ich mich leider nicht mehr erinnern.
Der Vorteil war, ich konnte meine Position nutzen, um meine nächste Filmpremiere im Lichthof der Berufsschule zu veranstalten. Nach ein wenig Hickhack mit dem Schulamt bekam ich schließlich die Genehmigung, meinen zweiten Super-8-Spielfilm „Slow motion“ im Lichthof der Berufsschule uraufzuführen. Natürlich hielten mich alle für bekloppt. Der Lichthof bot 650 Personen Platz. Und kein Mensch glaubte daran, dass ich es schaffen würde, den Lichthof mit meiner Filmvorführung zu füllen. Ganz ehrlich, auch ich hatte da so meine Zweifel.
Es kamen fast tausend Leute. Die Veranstaltung drohte aus dem Ruder zu laufen. Der Hausmeister, der sich auf 150 Personen eingestellt hatte, bekam Panik und musste beruhigt werden. Da viele rauchten, durfte die Notbeleuchtung nicht ausgeschaltet werden. Damit hatten wir natürlich nicht gerechnet. Der Film musste also bei Dämmerlicht vorgeführt werden. Vorsorglich hatte ich den lichtstärksten Super-8-Projektor geliehen, der damals auf dem Markt war, ein „Elmo“. Die riesige Leinwand erstrahlte also trotz Notbeleuchtung in prächtigem „Kodachrome“ und der Filmabend wurde ein überwältigender Erfolg, trotz mittelmäßiger Filmkritiken.
Der werkenden Jugend, dem wirkendem Volke
Nach der erfolgreichen Filmpremiere im Lichthof der Berufsschule, beschloss ich, meinen nächsten Spielfilm über die Fachoberschule Bottrop und den zweiten Bildungsweg zu drehen. Das schloss auch zahlreiche Szenen im „Bistro/Piccadilly“ mit ein. Das Drehbuch schrieb ich zusammen mit Martin Honert, Elke Denda, Peter Kapinos und Siegried Behrend, die leider 2019 verstarb.
Als das Lehrerkollegium von den geplanten Dreharbeiten in der Berufsschule aus der WAZ erfuhr, gab es Widerstand. Co-Direktor Gregorschik und einige Lehrkräfte befürchteten, in dem Film von uns durch den Kakao gezogen zu werden, und wollten die Dreharbeiten stoppen. Wir hatten allerdings gar nicht vor, Lehrkräfte vorzuführen. Allerdings spielte der bekannte Bottroper Gastronom Roger Keller einen Deutschlehrer, was natürlich Spekulationen zuließ.
Der Sheriff sprach schließlich ein Machtwort. Schulleiter Dr. Hans-Dieter Krampe setzte sich nicht nur für das Schulwesen ein, sondern auch für die kulturelle Bildung an den berufsbildenden Schulen, unter anderem durch die Einrichtung von Theater- und Musikgruppen. Er fand die Tatsache, dass seine Schüler in seiner Schule einen Spielfilm über den zweiten Bildungsweg drehen wollten, hervorragend. Und die Idee, den Filmtitel „Der werkenden Jugend, dem wirkendem Volke“ zu nennen, gefiel ihm besonders. Schließlich ziert der Spruch die Fassade des Schulgebäudes.
Und so nahmen die Dreharbeiten ihren Lauf. Der Film wurde dann im Sonderprogramm der „Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen“ 1978 uraufgeführt. Unsere Klasse bekam an dem Tag schulfrei. Der Streifen wurde auf dem einwöchigen Filmfestival dann auch gleich zweimal als Sondervorführung wiederholt und war ein voller Erfolg. Die WAZ berichtete auf einer ganzen Seite im überregionalen Kulturteil über unseren Film. So wurde Christoph Schlingensief auf mich aufmerksam, der mir ein Jahr später auf einer Filmparty über den Weg lief.
Schulleiter Dr. Hans-Dieter Krampe hat sich in meiner Gegenwart nie über den Film geäußert. Ich weiß bis heute nicht, ob er den Streifen je gesehen hat. Vielleicht nahm er mit auch übel, dass ich einige Berufsschulszenen mit Wagners Götterdämmung musikalisch unterlegt hatte? Dr. Hans-Dieter Krampe verstarb im Mai 2011. Für sein Engagement bin ich ihm bis heute dankbar.
Hier der Trailer für den Spielfilm „Der werkenden Jugend, dem wirkendem Volke“
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Udo Schucker
Dank an Beatrix Schweizer für die tollen Fotos aus dem Archiv ihres Vaters.