Bistro-Piccadilly Bottrop
Eine Traumzeitreise
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Gestern Nacht träumte ich, ich sei wieder im Piccadilly*
Silvesternacht. Ich laufe durch die menschenleeren Straßen der Bottroper City. Die Luft ist mild, der Himmel seltsam klar. Ich kann das Sternenbild des großen Bären erkennen. Dann fällt mir die Totenstille auf und mir wird die totale Dunkelheit gewahr. Keine Straßenbeleuchtung, in den Wohnungen brennt nirgends Licht. Die Geschäftsfassaden sind alle stockfinster. Die Nacht macht ihrem Namen Ehre. Nur die Sterne am Firmament tauchen die Szenerie in ein silbrig-blaues Licht.
Warnstufe 6. Robert Habek hat zugeschlagen und allen den Strom abgeschaltet, um Energie zu sparen, denke ich. Und nur wer einen Energiespar-Brausekopf besitzt, darf noch einmal in der Woche duschen. Als dieser unangenehme Gedanke durch mein olfaktorisches Zentrum strömt, schaltet meine innere Antriebswelle kurzzeitig ab. Ich sinke auf einer Bank am Pferdemarkt nieder.
Weit und breit keine Menschenseele. Plötzlich höre ich Musik. Zuerst nur sehr leise, schließlich deutlich: Kate Bush singt „Running Up That Hill“. Verdammt, bin ich jetzt in der Netflix-Serie „Stranger Things“ gefangen? Mir fällt ein, dass der Name Bottrop ja Dorf auf dem Hügel bedeutet. Was will Kate mir damit sagen? Soll ich zum Donnerberg rennen? Der bequemere Teil meines Ichs entschließt sich dafür, erstmal nur die Osterfelder Straße hochzulaufen.
An der Kreuzung Peterstraße sehe ich links ein Leuchten. Und dann erkenne ich die Fassadenfront – jene Kneipe, jener Club, der fast ein Jahrzehnt lang mein zweites Zuhause gewesen ist und der vor gut vierzig Jahren für immer geschlossen wurde. Die Neonreklame mit dem Namen „Piccadilly Club“ flackert trotzig rechts an der Hauswand. Hinter den großen Scheiben sitzen Menschen im Bistro und essen Hamburger. Ich erkenne ihre Gesichter, einige winken mir zu. Ich trete ein.
Koch Moses hantiert in der Imbissbude direkt am Eingang. Davor sitzen Vadder, Waller, Blow und genießen ihre Pommes. Ich bekomme sofort Hunger. Rechts neben dem Eingang verwaltet die kleine Schwester von DJ Spatz die Garderobe, ihr Name ist mir leider entfallen.
Hermann und Erika stehen hinter der Theke, während Klaus am Durchgang zur Disco wacht. Reimbern und eine attraktive Blondine, deren Namen mir auch nicht mehr einfällt, sitzen hinten am Tresen und diskutieren. An der vorderen Theke sind alle Plätze besetzt. Rolf, Rainer, Günter, Birgit, Petra, Andrea, Claudia, Maria und Erwin. Auch beinahe alle Tische sind belegt. Ich sehe Martin, Peter, Gudrun, Elke, Sigrid, Mona und all die anderen. Keiner von ihnen ist auch nur ein Stück gealtert, nur ich, was aber anscheinend niemanden auffällt. Alle rauchen. In der hinteren Ecke, am Tisch kurz vor den Toiletten, schläft Werner nach seinem zehnten Wodka-Lemmon den Schlaf der Gerechten. So kennt man ihn.
Seitlich von der Theke tillt mein alter Freund Wolfram gerade den Flipper. „Alter, du weißt schon, dass du seit 26 Jahren tot bist!“. Wolfram grinst mich an: „Forever young!“ – „Ja, ohne Zweifel, der Tod steht dir gut.“
Ich frage Erika, warum sie an Silvesterabend geöffnet hätten, das war doch sonst nie der Fall?
Erika: „Die wussten alle nicht mehr wohin, haben gebettelt, Erika, mach doch auf. Wat soll ich machen, ich kann sie ja nicht alleine in der Dunkelheit lassen.“ Eine Wirtin mit Herz, gibt’s das heute noch?
Erika stellt mir ein Glas Altbier hin, hab ich seit zwanzig Jahren nicht mehr getrunken, es schmeckt. Der Zigarettenqualm lässt meine Augen tränen. Ich sauge die Atmosphäre auf, betrachte den Raum. Die vom Nikotin vergilbten Wände. Die dunkelbraunen, rustikalen Balken, die Tische an den großen Fensterscheiben, zu denen vier Stufen hinunterführen, über die ich häufiger gestolpert bin. Das ist also der Ort, an dem ich den größten Teil meiner Jugend verbracht habe, denke ich gerade, als Hermann Euskirchens brüllende Stimme mich aus meinen Gedanken reißt: „Saufen oder raus hier!“. Ich trinke schnell aus und bestelle ein neues Glas.
Brigitte, die 1996 bei einem Autounfall starb, taucht neben mir auf, bietet mir eine Zigarette an. Obwohl ich vor 25 Jahren aufgehört habe zu rauchen, schiebe ich mir den Lungentorpedo zwischen die Lippen. Sie gibt mir Feuer, ich nehme ein Zug, es kratzt. Ich verkneife mir das Husten, man will ja in so einem Traum nicht asozial sein.
Ich folge Brigitte in die Disco. Klaus Wermke klopft mir auf die Schulter, während ich durch die Tür gehe. Hinter der Theke im „Pic“ tun Arno und die „schnelle Moni“ ihren Dienst. DJ Spatz winkt mir zu und legt „Music was my first love“ auf den Plattenteller. Brigitte möchte tanzen und Spatz posaunt pompös durchs Mikro: „Und als ganz besonderen Gast begrüßen wir heute Abend Bottrops bekanntesten Filmemacher …“ Ich werde ohnmächtig.
Der Klingelton meines Smartphones reißt mich aus meinem Traum. Mein Kollege Jens ist am Apparat und weist mich darauf hin, dass ich endlich mal den Artikel übers Piccadilly schreiben muss, den ich schon vor Wochen angekündigt habe. Okay!
Once Upon a Time in Bottrop!
Als der Piccadilly-Club in den 1960er Jahren seine Pforten öffnete, war er einer der ersten Diskotheken in Deutschland überhaupt, weit über die Stadtgrenzen bekannt. Sogar Radio Bremen und der WDR nutzten die Clubräume für Fernsehaufnahmen. Doch wir wollen hier nicht über die „Schulz-Ära“ sinnieren. Deshalb spule ich mal etwas vor, direkt ins Jahr 1976, ein wendungsreiches, tolles Jahr: 1976 gab es den Jahrhundert-Sommer und den Jahrhundert-Wein. Das Kolpinghaus wurde geschlossen, bis dato der Schüler und Studententreff in Bottrop. Und Erika und Klaus Wermke übernahmen das „Bistro-Piccadilly“ vom Vorbesitzer Manni Schulz.
Ich betrat das Bistro zum ersten Mal Mitte der 1970er Jahre, da war der Laden schon aufgeteilt: im vorderen Bereich befand sich das Bistro (Kneipe und Küche) und im hinteren Bereich die Diskothek (Pic). Das Bistro öffnete um 11 Uhr vormittags und war um 12 Uhr mittags bereits gerappelt voll, ebenso die Gäste. „Saufen oder raus hier!“ so begrüßte „Chefzapfer“ Hermann Euskirchen gerne scherzhaft seine Gäste. Das ließ sich die Schüler- und Studentenszene nicht zweimal sagen, war man doch gerade auf der Suche nach einem neuen Treffpunkt. Und so bekam der Laden 1976 mit Erika und Klaus nicht nur ein neues Besitzerduo, auch das Publikum veränderte sich und bescherte dem Club einen einzigartigen Auftrieb. Hier trafen sich alle sozialen Schichten. Heute politisch unkorrekt, damals einfach nur lecker, die „Türkenwurst“. Hier konnten Nachtschwärmer noch um 3 Uhr morgens Hamburger und zarte Steaks genießen.
Der Schatten der Vergangenheit mag ja so manch eine Erinnerung übertünchen und fälschlicher Weise idealisieren, aber für viele meiner Generation war das PIC ein wesentlicher Bestandteil unserer Jugend. Im Bistro-Piccadilly wurden Freundschaften geschlossen und Netzwerke geknüpft. Und ja, manchmal gab’s auch eine Prügelei. 1986 war dann auch diese Ära vorbei. An der Peterstraße, wo wir einst bis in den frühen Morgen über Gott und die Wissenschaft diskutierten, werden heute Rollatoren verkauft.
Hermann Euskirchen sagte mal zu mir: „Ihr seid doch alle an meiner Theke erwachsen geworden!“ Ich mag ihm da nicht widersprechen!
Übrigens, auch Bottrops Gastro-Legende Reimbern von Wedel-Parlow stand hier lange Zeit an der Zapfsäule.
Udo Schucker
*„Gestern Nacht träumte ich, ich sei wieder in Manderley“. Dieser wohl berühmteste erste Satz der englischen Literaturgeschichte stammt aus Daphne du Mauriers Romanklassiker „Rebecca“. Ich wollte ihn mir schon seit geraumer Zeit mal ausleihen, um eine Geschichte zu beginnen.
Dank an Reimbern von Wedel-Parlow für die alten Fotos.
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