Absolution
Die letzten Tage des Universums
Lust auf eine Reise, zurück in die Tage, als die Welt noch in Schwarz-Weiß zu ticken schien? Es war die Zeit der 1960er Jahre, eine Ära, die heute wie ein verblassender Traum am Rande meines Bewusstseins schwebt.
In den Straßen meiner Kindheit, wo das Echo der Kirchenglocken den Rhythmus des Lebens vorgab, ereignete sich eine Geschichte – meine Geschichte. Sie handelt von einem kuriosen Ablasshandel mit der katholischen Kirche, einem Tauschgeschäft zwischen Schuld und Vergebung, das so absurd war wie die Vorstellung, man könne Zeit in Flaschen abfüllen.
Und dann war da noch das Universum. Nein, nicht jenes unendliche Gebilde aus Sternen und Galaxien, sondern ein bescheideneres Universum, ein Kino an der Essener Straße. Ein Ort, der kurz davor stand, seine letzten Atemzüge zu tun, ohne dass wir es ahnten.
Sind Sie bereit, mit mir durch die Gassen der Erinnerung zu streifen, bevor sie im Nebel der Zeit verschwinden? Dann folgen Sie mir, während ich die Tür zu jener längst vergangenen Welt öffne.
Katholiken
Damals war die Welt noch in Ordnung, so schien es zumindest. Von ein paar Protestanten mal abgesehen, war die Bottroper Bevölkerung weitgehend katholisch geprägt. Die Kirche spielte im Alltag der Bürger noch eine wichtige Rolle: Man ging sonntags zur Messe, regelmäßig zur Beichte, nahm an Prozessionen teil und engagierte sich sonst irgendwie in der Gemeinde. So auch in unserer Familie. In jenen Tagen ahnten die meisten noch nichts von den dunklen Machenschaften der Kirchenmänner.
Ich war sogar eine Zeit lang Messdiener, besserte mein Taschengeld durch das Austragen der Kirchenzeitung auf und verbrachte die Sommerferien freiwillig über mehrere Jahre hinweg in einem barocken Kloster in Niederbayern, in einem Ort namens Rohr. Organisiert wurden die Kinder-Ferien-Verschickung von der Caritas. Arno Beyer, der in Bottrop aufgewachsene spätere Intendant des NDR, war auch mehrfach mit von der Partie und schwärmte vor ein paar Jahren in einem Interview von diesen unbeschwerten Sommertagen bei den Benediktinermönchen.
Horrorszenen in Herz Jesu
Wir gehörten zur Gemeinde Herz Jesu, deren expressionistische Backsteinkirche ich immer als kalt und unbarmherzig empfand. Die Herz-Jesu-Kirche mit ihren würfelförmigen Elementen und dunklen Innenräumen erschien mir stets wie eine Festung, die die verlorenen Seelen eher davon abhielt, in ihr Trost und Einlass zu finden. Ende der 1970er wollte ich dort mal ein paar Szenen für einen Horrorfilm drehen, die ideale Kulisse, leider bekam ich keine Genehmigung.
Obwohl der Bau eine gewisse Freudlosigkeit ausstrahlte, waren die Pfarrfeste bis Ende der 1970er Jahre stets von ausgelassener Stimmung und auch ein Anziehungspunkt für Nicht-Gemeindemitglieder.
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Die Kathedralen meiner Kindheit
Die wahren Kathedralen meiner Kindheit hießen „Schauburg“, „Capitol“, „Scala“ und „Universum“. Und die Religion, der ich folgte, nannte sich Eskapismus. Die Lichtspielhäuser jener Zeit boten mir all dass, was die Kirche einem niemals geben konnte: Trost, Mitgefühl, Freude, Hoffnung, eine vitale Illusion, die mich vor der Banalität beschützte.
Der berühmte Schauspieler Lee Marvin hat einmal direkt von der Leinwand zu mir gesprochen: „Kleiner, sieh zu, dass du in jungen Jahren möglichst viele Erinnerungen produzierst, damit du im Alter etwas hast, das dir das Herz wärmt“. Ich bin seinem Ratschlag gefolgt und habe nun eine Vielzahl an Erinnerungen, die mir heute das Herz wärmen.
Eucharistie
In der katholischen Kirche ist die Erstkommunion von großer Bedeutung. Es gibt eine Menge Geschenke, und an diesem Tag dürfen die Kinder zum ersten Mal das „heilige Brot“ in Form einer Hostie empfangen usw.
Als ich in der dritten Klasse war, stand meine Erstkommunion an. Ich freute mich auf ein paar hübsche Geschenke. Auch, wenn ich für diese Zeremonie einen kratzenden Kommunionsanzug tragen musste.
A Hard Day’s Night
Der Sonntag vor der Erstkommunion nahte, und mit ihm eine unerwartete Kollision der Welten. Um 14:30 Uhr sollten wir in der Herz Jesu Kirche erscheinen, bereit für unsere erste Beichte. Doch genau zu dieser Stunde öffnete das Kino „Universum“ an der Essener Straße seine Pforten für die Jugendvorstellung mit dem Beatles-Film „A Hard Day’s Night“. Alle Kinder aus der Nachbarschaft wollten dorthin, ich auch. Was sollte ich tun?
Zuvor hatte ich etwas über den Ablasshandel der katholischen Kirche gehört oder gelesen. So genau hatte ich das nicht verstanden, hatte mir aber gemerkt, dass man sich für seine Sünden freikaufen konnte und nicht unbedingt zur Beichte musste. Zumindest hatte mein kindliches Ich das so für sich zweckmäßig interpretiert. Die Lösung meines Problems war also schnell klar: In Erwartung einer größeren Geldsumme zur Erstkommunion überredete ich meinen Kumpel Ernst, für mich zur Beichte zu gehen.
Wir waren über 40 Kommunionkinder. Da auch ein neuer Kaplan namens Mure zu den Beichtvätern gehörte, der unsere Namen nicht kannte und zudem einen etwas wirren Eindruck machte, sollte mein Plan todsicher sein. Ich versprach meinem Schulfreund Ernst zwei D-Mark, wenn er zweimal zur Beichte ging: einmal für sich beim Pfarrer Horstmann und einmal für mich beim Kaplan Mure. Wie durch ein Wunder ging mein kindlicher Plan auf, niemand bemerkte meine Abwesenheit. Doch mein Gewissen rumorte.
Das „Universum“
Das Universum war mehr als nur ein Kino an der Essener Straße 82; es war ein Portal in eine andere Welt, eröffnet am 8. Oktober 1954 durch den Visionär Hermann Henselmann, der den ehemaligen Saal der Gaststätte Grigoleit in einen Ort der Magie verwandelte, der 600 Menschen Platz bot. Es war das erste Kino in Bottrop, das Cinemascope-Filme im Breitwandformat zeigen konnte. Henselmann, ein Mann, der bereits zuvor Gaststättensäle in Kinos wie das „Glückauf“ und das „Roxy“ umgewandelt hatte, verstand es, Zufluchtsorte für die Fantasie der Menschen zu schaffen.
Eine drei oder vier Meter breite, stark abfallende und teilweise überdachte Zufahrt führte zum Eingang des Kinos. An beiden Seiten befanden sich Schaukästen mit Filmplakaten und Standfotos. Eines Tages, als die Welt sich in einem seltsamen Gleichgewicht befand, blieb ein Schaukasten unverschlossen. Die Versuchung war zu groß, und ich fand meine Hand, wie sie ein Foto stibitzte, ein flüchtiger Akt des Widerstands gegen die Ordnung der Dinge. Später, in einem Film von François Truffaut, „Sie küssten und sie schlugen ihn“, begegnete ich dieser Szene erneut, als ob das Universum seine eigene Geschichte erzählte, verwoben mit den Fäden des Zufalls und der Erinnerung.
Erlösung
Ringo Starr schmollte gerade auf der Leinwand, als mich ein unerwartetes Kribbeln durchfuhr, das in meinem Bauch begann und sich ausbreitete wie eine Welle der Leichtigkeit. Es war, als hätte sich ein unsichtbares Gewicht von meinen Schultern gelöst, eine Last, deren Existenz mir bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen war. Nun, Ringos Schmollmund war für diese befremdliche Empfindung jedenfalls nicht der Auslöser.
Wie ich kurz darauf erfahren sollte, hatte mein Schulfreund Ernst – mein Beichtdouble – vermutlich just in diesem Moment die Absolution für meine Sünden erhalten. Als ich nachbohrte, welche Abgründe meiner Seele er denn dem Priester offenbart hätte, zuckte Ernst nur mit den Schultern. „Ach, nix Besonderes“, murmelte er, „ein paar Lügen und unkeusche Gedanken.“
Unkeusche Gedanken
Das Wort entzog sich meinem kindlichen Verständnis wie ein flüchtiger Schatten. Ernst, in seiner stoischen Art, hüllte sich in Schweigen. Die auferlegte Buße – zehn Vaterunser – fiel mir zu, schließlich waren es ja meine Verfehlungen. Ich rezitierte das Gebet wie gefordert, verdoppelte die Anzahl aus einem unerklärlichen Impuls heraus und verspürte Dankbarkeit.
In jenem Moment glaubte mein 9-jähriges Ich fest an die kosmische Arithmetik der Sündenvergebung, als könnte man Schuld mit Worten und zwei D-Mark aufwiegen. Das Universum, so dachte ich, hatte meine Rechnung beglichen.
Der Juli 1966 markierte das Ende einer Ära. Das „Universum“, jener Ort der Träume und Illusionen, verschwand in einem Wirbel aus Staub und Erinnerungen. An seiner Stelle erhob sich, wie ein nüchterner Monolith der Moderne, ein Supermarkt namens „Leso“. Die Transformation war so abrupt, so endgültig, dass sie fast surreal erschien – als hätte jemand eine Seite in meinem persönlichen Drehbuch umgeblättert, ohne mich zu warnen.
Udo Schucker
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