Volga calling – die Russen kommen!
Eine Kurzgeschichte aus der Gastronomie von Igor Albanese
Weihnachtszeit ist Stresszeit. Was im Laufe des Jahres an Umsatz verloren gegangen ist, wird in Rekordzeit nachgeholt. „Süßer die Glocken nicht klingen.“
Die Tische werden im Zweistundentakt besetzt, keine Minute Ruhe.
Wie ein Regisseur steht der Padrone an der Tür, um die ankommende Gästeschar an ihre Tische zu weisen. Küsschen hier, Späßchen da, alles läuft bestens.
Am Fenster ist eine Tafel für zehn Personen gedeckt, reserviert von einer bekannten Firma aus der Nachbarschaft. Da sie erst in einer Stunde erwartet werden, sitzen andere als Lückenbüßer am Tisch; drei Wiener Schnitzel, dreimal Blutwurst, achtzehn Pils und ein paar Schnäpse; gar nicht schlecht für eine Stunde Leerlauf.
Mitten im Geschehen klingelt das Telefon. Der Gast, der den Tisch am Fenster für zehn Personen reserviert hatte, meldet sich vom Flughafen Düsseldorf. Er und sein Kompagnon werden sich verspäten, aber ihre ausländischen Geschäftspartner würden eine halbe Stunde früher als geplant eintreffen.
„Kümmern Sie sich bitte um die Gäste“, meint er am Telefon, „Russische Geschäftsleute, sehen etwas unkonventionell aus, sprechen weder Deutsch noch Englisch. Na ja, Sie schaffen das schon.“ Bevor der Padrone etwas erwidern konnte, ist das Gespräch zu Ende.
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Von wegen, alles läuft bestens! Das Restaurant ist voll besetzt, es gibt nicht einmal Platz an der Theke. Wo soll er mit acht Personen hin? Die Gäste am Fenster haben gerade das Essen serviert bekommen, es wird sicherlich eine halbe Stunde dauern bis sie fort sind. Am Stehtisch neben der Theke – zum Glück zwei Stammgäste bei ihrem Weizenbier. Und gegessen haben sie ja schon. Für die Bereitschaft, aufzustehen und im Gang neben der Toilette im Stehen weiterzutrinken, gibt es Grappa gratis.
Im nächsten Augenblick geht die Restauranttür auf; die Russen betreten den Raum. Ein buntes Farbenspiel und ein an Lautstärke alles übertreffendes Palaver schwappt ins Lokal.
Wie die Flut erobern sie den Gastraum, schieben freie Stühle an bereits besetzten Tischen hin und her, unterhalten sich über die Köpfe der anderen Gäste hinweg, klatschen in die Hände und auf ihre dicken Mäntel, um sie vom Schnee zu befreien.
Einige verängstigte Restaurantbesucher tippen auf Raubüberfall oder Geiselnahme, die anderen schauen dem wirbelnden Szenario belustigt zu. Der Wirt, zum Glück informiert, hätte andernfalls vielleicht selbst Angst bekommen. Vorsichtig spricht er den Autoritärsten der farbenfrohen Gruppe an, während Astrid, die Kellnerin, die anderen in Richtung Theke zu treiben versucht. Sie sind trotz ihrer Lautstärke friedlich gestimmt und guten Mutes.
Einige Minuten später ist die Lage wieder unter Kontrolle. Die anderen Gäste akzeptieren das Schauspiel, als Zeichen ihrer multikulturellen Gesinnung.
Der für höchstens vier Personen Platz bietende Stehtisch neben der Theke ist inzwischen restlos umlagert. Um mehr Platz am Tisch zu schaffen, nimmt der Barkeeper den Kerzenleuchter und die Blumenvase weg. Eine Terrakottaschale, dekoriert mit in Duftöl getränkten Orangen- und Zitronenscheiben schiebt er zur Seite. Die Russen fühlen sich wohl und stimmen volltönend ein orthodoxes Weihnachtslied an. Auf gut Glück serviert der Wirt die vorbestellte Flasche Wodka und acht große Biere, die mit Begeisterung im Nu ausgetrunken werden, während die nächsten schon unterwegs schäumen.
Der Tisch am Fenster ist pünktlich wieder frei. Die Regenbogengruppe kann jetzt den Stehtisch mit der für sie gedeckten Tafel tauschen. Sie sind bei der vierten Bierrunde und der zweiten Flasche Wodka, Tendenz steigend. In ausgelassener Stimmung empfangen sie kurz darauf die beiden verspäteten Geschäftsleute, die den Tisch reserviert haben. Nach einigen raumgreifenden Umarmungen werden sie zum Singen und Trinken aufgefordert, die Chancen auf einen guten Geschäftsabschluss stehen bestens.
Der Wirt, glücklich darüber, die Gruppe aus seiner Obhut entlassen zu dürfen, kehrt zur Theke zurück und bestellt ein Bier für sich. Den Kerzenleuchter und die Blumenvase hat der Barkeeper inzwischen wieder an ihren Platz gestellt, doch die Schale mit den aromatisierten Früchten ist nicht mehr da. Nur der weißgraue Rand auf dem gewachsten Holztisch zeugt von ihrer früheren Existenz.
„Wo ist die Schale mit der Dekoration?“, fragt der Wirt nach einem ordentlichen Schluck.
„In der Spülmaschine.“
„Und die Früchte?“
„Die haben die Russen aufgegessen“, meldet der Barkeeper, während er mit unbeteiligter Miene ein Weinglas poliert.
Der Wirt braucht einen kurzen Augenblick, um sich zu fangen: „Sie machen wohl Witze. Die Obstscheiben waren steinhart, verstaubt und durch die Duft Öle aus den letzten fünf Jahren vergiftet?“
„Kein Witz Chef, ehrlich, nicht ein Stückchen haben sie übrig gelassen, und es hat ihnen anscheinend geschmeckt.“
Astrid steht mit einem vollen Tablett neben der Theke und schaut sie an: „Die beiden Gäste, die eingeladen haben sind von der Atommüllentsorgungsfirma aus der Nachbarschaft. Vermutlich sind die Russen in der gleichen Branche, Entsorgung ist ihr Tagesbrot.“
„Zu Hause werden sie bestimmt über die außergewöhnlichen Essgewohnheiten in Deutschland berichten„, lacht der Wirt.
„Wenn sie die Nacht überleben“, meint der Barkeeper, ohne mit der Wimper zu zucken.