Die Zukunft hat Vergangenheit – Teil 3
Vom Kaufhaus Karstadt zur Phoenix Galerie – Weihnachten
Rums. Ich drehte mich um und knallte mit der Stirn gegen einen Betonträger. Mein Kumpel Peter hatte mich zuvor noch gewarnt: „Pass auf den Träger auf!“ Verstärkt wurde der Aufprall durch den Schwung meiner Hüftdrehung. Die Aufprallenergie war so heftig, dass ich mich direkt auf den Hosenboden setzte und Sterne funkeln sah. Aus weiter Ferne ertönte der Bottroper „All-Woman-Chor“ mit einem Weihnachtsklassiker aus dem 19. Jahrhundert: „Süßer die Glocken nie klingen“.
Es ist Heiligabend, 8:20 Uhr. Wir befinden uns im Lager der Karstadt-Dekorationsabteilung im Logistikzentrum am Bottroper Südring. Mein Freund Peter Kapinos und ich hatten für drei Wochen einen Studentenjob in der Deko-Abteilung von Karstadt. Unser Auftrag an diesem Tag: Weihnachtsbäume im Lager heraussuchen für ein paar „kahle Stellen“ im Kaufhaus, um diese noch vor dem großen Kundenansturm mit den Plastiktannen zu dekorieren.
Auf meiner Stirn bildete sich schnell eine Beule, woraufhin mir einige Mitarbeiter an diesem Tag den Spitznamen „Einhorn“ verliehen. Ich kam schnell wieder auf die Beine. Nachdem mir Frau Geiger, Chefin des Warenlagers, zwei Gläser Bacardi-Cola spendiert hatte – war ja schließlich ein besonderer Tag –, fuhren wir mit unseren Polyester-Weihnachtsbäumen zurück ins Kaufhaus. Frohe Weihnachten!
Stopp! Hier stimmt etwas nicht. Wir schreiben das Jahr 1986. Der „All-Woman-Chor“ wird erst 1997 von Ruth Miketta gegründet. Das Glockenspiel am „Triffterer Haus“ in der Bottroper Innenstadt reißt mich aus meinen Erinnerungen.
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Die „Böse Bude“ – Gegenwart
Ich stehe mit Marcel Wiesten, Geschäftsführer der Phoenix Bottrop GmbH, und circa zweitausend weiteren Menschen am Glühweinstand der Familie Mann, im Volksmund auch die „Böse Bude“ genannt. Hier hatte so mancher schon einen Filmriss. Auch mir sind an der Bude im Laufe der Jahre so einige Stunden abhandengekommen. Habe sie als vermisst gemeldet. Leider blieben die Fälle bis heute ungelöst.
„Seit wann geht denn das Glockenspiel wieder?“, frage ich ungläubig.
„Seit dem 13. November“, antwortet Marcel.
Mir kommt Hemingway in den Sinn: „For Whom the Bell Tolls“. Na, jetzt nur nicht melancholisch werden.
„In Zukunft wird der Wunschzauberer-Weihnachtsmarkt übrigens im Innenhof der Phoenix Galerie stattfinden“, fährt Marcel fort. „Die ‚Böse Bude‘ bleibt natürlich erhalten.“
„Ist ja schließlich so etwas wie ein Bottroper Kulturerbe“, nuschle ich.
„Genau. Und nach den Festtagen wird der Weihnachtsmarkt zum Wintermarkt und bleibt bis Ende Januar geöffnet.“
„Dann muss man ja nicht mehr zum Après-Ski nach ‚Bæd Ischgl‘ fahren. Wird sicher auch ein paar Touristen aus den umliegenden Städten in unsere City locken“, erwidere ich.
Das Einhorn kehrt zurück
Der warme Duft des Weins lässt die „Nebel von Avalon“ in mir emporsteigen. Ich werde wieder zum Einhorn. Als mein Kumpel Peter und ich die Plastiktannenbäume an der Warenrampe im Untergeschoss des Karstadt-Gebäudes ausladen, kommt Tunnelfahrer „Günni“ um die Ecke geschossen. Er trägt eine rote Weihnachtsmannmütze und hat eindeutig zu viel Punsch getankt. Günni sieht meine Beule, bekommt einen Lachanfall und verpasst mir den Spitznamen „das Einhorn“. Eigentlich hatte ich ja auf ein wenig Mitgefühl gehofft, stattdessen wurde ich zum Alleinunterhalter. Günnis Lachkrampf wirkte ansteckend. Und so sorgte mein Missgeschick für reichlich Heiterkeit an diesem „heiligen Morgen“ im Jahre 1986.
Schluss mit lustig
Als Herr Eberle, Leiter der Deko-Abteilung, meine Schwellung zu Gesicht bekam, schickte er mich sofort zum Betriebsarzt, der zufällig im Haus verweilte und nur zwei Türen von der Deko-Abteilung entfernt in seinem Behandlungszimmer im vierten Stock saß. Damals arbeiteten an die zehn Personen in der Dekorationsabteilung von Karstadt. Schaufenstergestalter war da noch ein gefragter Ausbildungsberuf. Viele Kreative, die später als Künstler Bekanntheit erlangten, lernten in der Deko-Abteilung von Karstadt ihr Handwerk, wie z. B. der Bottroper Fotokünstler und Dozent Wolfgang Fröhling.
Ich schweife ab. Ich schilderte dem Betriebsarzt den Vorfall. Dieser schickte mich nach einer kurzen Begutachtung zum Röntgen ins Knappschaftskrankenhaus. Meine Beteuerungen, dass ich topfit sei, ließ er nicht gelten. „Meine Schwiegermutter singt übrigens auch im ‚All-Woman-Chor‘“, sagte der Arzt und beendete die Konsultation. Vielleicht hatte ich ja doch eine Gehirnerschütterung?
Noch mehr Glühwein
„Cheers.“ Marcel drückt mir ein neues Glas Glühwein in die Hand, reißt mich aus meinen Gedanken. „Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass meine Schwiegermutter im ‚All-Woman-Chor‘ singt?“
„Ja, hast du.“
„Echt!? – Äh, ich hab doch ohne Schuss bestellt, oder? Na, jedenfalls wird der Chor im nächsten Jahr wieder mehrfach auf dem Weihnachtsmarkt im Phoenix singen.“
„Mehr Lametta“, lalle ich.
„Das auch. Die Galerie wird natürlich wieder festlich geschmückt, mit vielen Lichtern. Nur energiesparender als früher, smarter eben.“
„Wie viel haben Sie getrunken?“, fragte mich der Arzt im Krankenhaus.
„Nur zwei Cuba Libre“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Zurück aus der Zukunft in die Vergangenheit
Im Knappschaftskrankenhaus war an diesem „heiligen Morgen“ noch nicht viel los. Ich wurde sofort geröntgt. Fünfzehn Minuten später betrachtete der Arzt mein Röntgenbild und konnte nichts Auffälliges feststellen. Es folgten noch ein paar neurologische Tests, dann konnte ich auch schon wieder zurück zur Arbeit. Ein ärztlich geprüfter Dickkopf.
Weihnachtsfeier in der Deko
Als ich aus dem Krankenhaus zurückkam, hatte die Deko-Abteilung alle Aufgaben erledigt und war bereits zum gemütlichen Teil dieses heiligen Arbeitstages übergegangen. Wein, Whisky, Wodka und Sekt, der große Arbeitstisch war reichlich gedeckt. Auch einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus anderen Abteilungen gesellten sich dazu.
Einige verteilten Geschenke untereinander. Die Stimmung stieg. Der Alkoholpegel auch. Alle bewunderten meine Beule. Peter und ich hatten schnell jenen Grad an alkoholischer Glückseligkeit erreicht, wie man ihn nur am Heiligen Abend erreichen kann. Allerdings waren wir um 22 Uhr noch zur Weihnachtsparty in der damaligen Szenekneipe „em pom pie“ mit vielen alten Freunden verabredet und mussten uns etwas zügeln.
Als es dann auch noch zu schneien anfing, überschlugen sich die Herzen aller Weihnachtsromantiker förmlich. Ein melodisches Lallen hallte durch den Raum: „Leise rieselt der Schnee, still und starr liegt der See, weihnachtlich glänzet der Wald, freue dich, Christkind kommt bald!“
Wieder in der Gegenwart – Frau Holle 2.0
„Hab ich schon die Schneekanonen erwähnt?“, fragt mich Marcel.
„Nein.“
„Wenn wir im Innenhof vom Phoenix demnächst den Weihnachtsmarkt gestalten, kommen auch mehrere Schneekanonen zum Einsatz. Ich mein, weiße Weihnacht, davon träumen doch viele.“
Ich seufze. „Ja, die weiße Pracht. Und in den Alpen fällt ja auch immer weniger Schnee“, sage ich und erinnere mich an eine Karstadt-Geschichte aus meiner Kindheit.
Bottrops erstes Happening
Kurz vor Weihnachten. Der Winter ließ auf sich warten, und wir Kinder sehnten uns nach Schnee. Und ich hatte da mal wieder eine Idee. Karstadt hatte damals noch eine Art Atrium, einen offenen Innenbereich mit Glasdach. Man konnte sich auf jeder Etage an die Brüstung stellen und auf die untere Verkaufsfläche blicken – aber eben nicht nur blicken.
Der Plan: Wir zerreißen etliche Zeitungen zu Konfetti, packen die Schnipsel dann in Karstadt-Tüten und schütteln diese von der obersten Etage auf die untere Verkaufsfläche. Dazu singen wir dann „Leise rieselt der Schnee“. Gesagt, getan! Es war eine herrliche Aktion. Während meine beiden Kumpels sofort die Flucht ergriffen, konnte ich mich nicht vom Anblick unseres Werks lösen.
Ich wurde erwischt und musste zum Geschäftsführer. Der Mann entpuppte sich als humorvoll. Nachdem ich ihm unsere Intention erklärt hatte, meinte er nur sinngemäß: Ihr wisst es noch nicht, aber ihr seid wohl die ersten, die in Bottrop ein Happening veranstaltet haben. An die genauen Worte kann ich mich nicht mehr erinnern. Konsequenz: Ich musste lediglich die Papierschnipsel auffegen, was meinem neunjährigen Ich irgendwie peinlich war – meine Kumpels hielten mich schließlich für einen harten Burschen. Na ja, Image ist alles ;-)
Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Ich muss an den Roman von Peter Høeg und an „Citizen Kane“ denken und nuschle: „Rosebud*“. Die Menschenmenge auf der Hansastraße rund um die Weinbude der Familie Mann wächst weiter an. Die Stimmung ist friedlich, ungewohnt harmonisch, eine Momentaufnahme, die erahnen lässt, wie sich die Innenstadt wieder mit Leben füllt.
Das alte Karstadt-Gebäude erstrahlt in einem verheißungsvollen Rot. Es ist ein schlafender Riese, der schon bald als Phoenix Galerie erwachen wird. Man spürt die Hoffnung, die sich wie ein unsichtbares Netz über den Platz spannt. Die Menschen glauben zwar nicht an den Weihnachtsmann, aber sie glauben daran, dass Olly Helmke und sein Team es schaffen können, die City wieder zu reanimieren.
Und es ist dieser Glaube, der sich über der Stadt ausdehnt und Hoffnung weckt. Eine Hoffnung, die Energie schafft, die die Menschen ein Stück näher zusammenrücken lässt und die diesjährige Weihnachtszeit vielleicht zu etwas Besonderem macht. For Whom the Bell Tolls. Cheers!
Schöne Weihnachten euch allen.
Udo Schucker
Weitere Infos zur Phoenix Galerie: https://phoenix-bottrop.de/
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Dank an Beatrix Schweizer für die Fotos aus dem Archiv ihres Vaters.
Lesen Sie zum Thema Karstadt/Phoenix Galerie auch unsere neue Rubrik mit zahlreichen Beiträgen: vom Kaufhaus Karstadt zur Phoenix Galerie
*Rosebud, Anspielung an den Film „Citizen Kane“ von Orsen Wells. Es ist der Name von Charles Kanes Kindheitsschlitten, ein Symbol für seine verlorene Kindheit.
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Optikerfachgeschäft Dr. Tiesmeyer Bottrop. Foto: Udo Schucker


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