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Herr Blum hat Zahnweh

Ein skurriler Erfahrungs­bericht für alle, die Angst vorm Zahnarzt haben

Glückauf!

Die Sonne lachte. Herr Blum blickte in einen azurblauen Himmel, auf dem sich ein paar Schäfchenwolken tummelten. Leopold Blum musste an einen weit zurückliegenden Urlaub in den Schweizer Alpen denken, als seine Figur dünn und das Haar voll war. Nun ist es umgekehrt. Blums Zahnweh wich einem Fernweh, das gerade dabei war, eine Art Wehmut zu destillieren, als sich die Silhouette von Zahnärztin Claudia Ißleib vor die Sonne schob: „Glückauf, Herr Blum, wo tut’s denn weh?“

Herr Blum lag auf einem Behandlungsstuhl in der Boyer Zahnschmiede. Der blaue Himmel wölbte sich in Form eines Deckenfotos über dem Kopfteil der dentalen Liege. Blum hatte Angst vor Zahnbehandlungen, er umklammerte die Hutkrempe seiner Melone, die er vor seinem Bauch hielt. Der Hut war ein Erbstück, das sein Urgroßvater angeblich von den englischen Hutmachern Thomas und William Bowler erworben hatte.

Herr Blum hatte etliche Zahnärzte ausprobiert, bis er einen gefunden hatte, dem er seine Zahnbehandlungsphobie anvertraute. Leider ist dieser vor einem Jahr in den Ruhestand gegangen, und Blum hatte das Thema verdrängt. Leopold Blum pflegte seine Zähne zwar penibel, doch es half nichts: Sein Backenzahn pochte seit einigen Tagen auf eine Behandlung.

Mutti! Mutti! Sie hat überhaupt nicht gebohrt!

Zu welchem Zahnarzt oder welcher Zahnärztin sollte er gehen? Blum zog eine Anfrage in einer Bottroper Facebook-Gruppe in Erwägung. Allerdings war er dort gesperrt worden, weil er zu viel Werbung für sein Lieblingsrestaurant gepostet hatte. Dann fiel ihm der hypersensible, zehnjährige Sohn seiner Nachbarin ein: Finn. Finns Mutter hatte letztens erwähnt, wie froh sie sei, endlich eine Zahnärztin gefunden zu haben, der ihr Sohn vertraut.

„Wer Kinder hasst, kann kein ganz schlechter Mensch sein“, hatte der Komiker W. C. Fields mal gesagt. Herr Blum mochte Kinder nicht besonders. Auch der neunmalkluge Finn ging ihm manchmal auf die Nerven, mit seinem Geplärre, wenn er mal wieder seinen Willen nicht durchsetzen konnte. Doch der verhätschelte Bengel hatte bestimmt schon einige Zahnärzte verprellt und war folglich ein glaubhaftes Testimonial. Und so kam es, dass Leopold Blum nun in der Praxis der Zahnärztin Claudia Ißleib am Boyer Markt lag und eine spontane Heilung verspürte.

„Äh, es tut gar nicht mehr weh. Der Schmerz ist weg. War vermutlich nur etwas Psychosomatisches?“, versuchte Blum sich herauszureden.

„Herr Blum, wie wäre es, wenn Sie den Mund etwas öffnen und ich mal vorsichtig nachsehe?“

Herr Blum fixierte die Zahnsonde, die die Zahnärztin langsam vor seinen Augen hin und her bewegte, als wolle sie ihn hypnotisieren. Blum bekam den Mund nicht auf. Seine Kiefermuskulatur kontrahierte gegen seinen Willen. Dieses Gefühl war ihm nicht fremd; es erinnerte ihn an eine Episode aus seiner Jugend, als er gerade dreizehn war.

Kiss Me, Leo

Ende der 1960er-Jahre hatte Blum mit ein paar Schulfreunden einen schäbigen Beatkeller unter den Praxisräumen eines seinerzeit bekannten Bottroper Zahnarztes auf der Humboldtstraße eingerichtet. Die Familie eines Klassenkameraden wohnte in dem alten Haus, das durch seinen vornehmen Eingang mit den zwei klassizistischen kannelierten Säulen auffiel. Sie verfügten über einen ungenutzten Kellerraum, in dem ein altes Sofa und ein paar Stühle lagerten. Da beide Elternteile berufstätig waren, fiel die nachmittägliche Nutzung als Beatkeller eine Zeit lang nicht auf.

Klassensprecher Klaus, den alle nur den „schönen Klaus“ nannten, hatte reichlich Mädels eingeladen. Leo Blums pubertierendes Ich durfte auf einem „Dual Kofferplattenspieler“ mit Monolautsprecher im Deckel die Vinylscheiben auflegen, meistens Singles. Nein, damals liebte noch niemand den DJ. Bei flackerndem Kerzenlicht wurde heimlich geraucht, und vorwiegend wurde „Klammer-Blues“ getanzt. Dabei konnte man sich beschnuppern und unauffällig erste anatomische Studien betreiben.

Als die von allen Jungen begehrte Gabi den schüchternen Leo auf die Tanzfläche zog, konnte dieser sein Glück kaum fassen. Fast hätten seine Beine ihren Dienst versagt. Er klammerte sich etwas zu heftig an seine Tanzpartnerin. Als Gabi dann auch noch versuchte, ihn zu küssen, nahm die Katastrophe ihren Lauf. Blum bekam den Mund nicht auf, obwohl Gabis Zunge mehrfach anklopfte und Einlass begehrte. Blums Mund blieb geschlossen. Als plötzlich auch noch das hochfrequente Geräusch des Zahnbohrers aus der Praxis von oben ertönte und sich mit dem Sound von „A Whiter Shade of Pale“ von „Procol Harum“ mischte, geriet sein gesamter Körper in eine Art Schockstarre.

Was für eine Blamage. Blum hatte auf ganzer Linie versagt. Und er sollte im Laufe seines Lebens noch häufiger Situationen erleben, in denen er seinen Mund nicht aufbekam. Ironischerweise lobte seine Mutter ihn deswegen sogar und gab vor ihren Freundinnen an: „Unser Leopold ist ja so ein ruhiges Kind. Man hört manchmal den ganzen Tag kein Wort von ihm.“ Dabei hätte Leopold Blum sehr gerne Unmengen an Wörtern verloren. Doch die Banalität seiner Existenz verschlug ihm einfach immer wieder die Sprache. Blum versuchte seinen Mund zu öffnen.

Der Steiger kommt

„Glückauf, Glückauf; der Steiger kommt; und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht; schon angezünd’t, schon angezünd’t. angezünd’t, das wirft sein‘ Schein; und damit so fahren wir bei der Nacht, und damit so fahren wir bei der Nacht; ins Bergwerk ein, ins Bergwerk ein.“ Petra Stief, auch bekannt als Sängerin Liz, trällerte gemeinsam mit ihren Kolleginnen das „Steigerlied“. Perfekt choreografiert versammelten sie sich dabei nach und nach um Herrn Blum. Gab es da nicht dieses Musical mit Jack Nicholson als Zahnarzt?

Die Gesangseinlage lockerte seine Kiefermuskulatur. Blum musste an „Die seltsamen Methoden des Franz Josef Wanninger“ denken, eine Fernsehserie aus seiner Kindheit. Die seltsamen Methoden der Zahnschmiede Bottrop wirkten jedenfalls. Blums Kinnlade fiel herab.

„Zwei-Sieben, defekte Füllung“, diktierte Zahnärztin Claudia Ißleib ihrer Assistentin. „Nichts Schlimmes, Herr Blum, nur eine alte Amalgam-Füllung, die zerbrochen ist und erneuert werden muss. Vorab kontrollieren wir noch die Wurzelkanäle. Dazu machen wir ein Röntgenbild. Dann müssen wir ein bisschen bohren. Aber ich verspreche Ihnen, es tut nicht weh.“

„De Hüll is ual Amlag. Beom i e Beäugung?“ Herr Blum versuchte durch den geöffneten Mund zu sprechen.

„Sie können den Mund ruhig wieder schließen! Die EU hat Amalgam ab 2025 verboten, wegen des Quecksilberanteils. Aktuell zahlt die Krankenkasse in der Regel bei hinteren Zähnen nur Zement als Füllmaterial. Sie bekommen natürlich eine Betäubung.“

„Lauter Gesundheitskonzepte, die den Bach runtergehen. – Zement haben ja schon die alten Römer verwendet, mit Vulkanasche.“

„Na ja, unsere Zementfüllung besteht im Wesentlichen aus Aluminiumsilikatglas, Calcium und Fluorid.“

„Calcium soll ja gut für die Knochen sein. Gibt’s noch Alternativen? Ich hab ’ne Zusatzversicherung, die übernehmen achtzig Prozent. Ich hätte also gerne eine Füllung, die sehr langlebig ist, gut verträglich und nicht auffällt, wenn ich den Mund öffne.“

„Nun, in diesem Fall empfehle ich Ihnen ein Keramik-Inlay.“

Jede Menge Kohle

Leopold Blum blickte auf ein großformatiges Zechenfoto, das fast die gesamte Wand bedeckte. Der Behandlungsraum trug originellerweise auch den Zechennamen „Zollverein“. Die anderen Räume hießen „Zeche Ewald“, „Kohlenwäsche“ oder „Prosper-Haniel“. Das gesamte Interieur der „Zahnschmiede“ reflektiert ein Stückchen Bergbaugeschichte.

Blum dachte an die Zeit, als der Pott noch kochte. Als man nicht nur Kohle, sondern auch den sozialen Aufstieg förderte. Als viele Arbeiterkinder Abitur machten und studierten. Die Zeiten waren irgendwie vorbei. „Ist die Politik nur noch ein zahnloser Tiger, der vor den Lobbyisten und Konzernen kuscht?“, fragte sich Leopold Blum und erhob sich aus dem Behandlungsstuhl. Er zog seinen schwarzen Anzug glatt, rückte seine Krawatte zurecht, setzte seine Melone auf und ging eine Tür weiter zum Röntgen. Glückauf, Alfred Hitchcock kommt.

Udo Schucker