Das tollere Ich
„Pimp yourself!“ – amerikanische Verhältnisse in Bottrop
Über den großen Teich schwappt eine hohe Welle, umspült auch Bottroper Fitness-Studios wie „McFit“, „Mrs. Sporty“ oder „BodyFit“ – und wer nicht mitschwimmt, den lässt sie gestrandet zurück: ohne Produktivitäts-Log und Laufmotivator. Aus ihrem Grundrauschen formt sich eine Phalanx von Fragen. Der Tenor: „Holst Du auch das Beste aus dir heraus?
Wie viele Portionen Obst und Gemüse isst du pro Tag? Enthalten sie genug Antioxidantien? Fastest Du intermittierend? Verzehrst du mindestens einmal pro Woche Fisch oder andere Nahrungsmittel mit Omega-3-Fettsäuren? Genug Proteine? Kontrollierst Du regelmäßig dein Gewicht? Deinen Kaffeekonsum? Deine Kalorienzufuhr? Die Grafik deines Schlafmusters? Deinen Workflow – anhand von Diagrammen, die deine Tagesziele mit dem Geleisteten abgleichen? Da musst du leider passen? Oje! Aber entspann dich: Denn das Stresshormon Cortisol führt zu einer Ausdünnung der Haut … 😉
Glücksversprechen – wir haben es in der Hand
Die Lippen voll, die Brust straff, der Bauch gerippt, die Achselhöhlen trocken und geruchsneutral, das Gehirn aktiv und die Stimmung heitervital: Offenbart sich in den medienwirksamen Idealbildern der moderne „Terror des Solls“ – in einer narzisstisch infizierten Kultur, die stets „gut drauf“ und optimal eingestellt sein will? Fakt ist: Je höher die Messlatten liegen, desto größer wird der Widerspruch zwischen Soll- und Ist-Zustand, desto lähmender die Angst, den Anschluss nicht halten zu können. Hier schnappt die Narzissmus-Falle des „Self-Trackers“ zu.
Vertikale Anspannung als Dauerzustand
„Vertikalspannung“, das permanente Nach-oben-Streben, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk, ist an die Stelle alter Glaubenslehren getreten. In einer zunehmend undurchschaubarer werdenden Welt sei die Hoheit über den eigenen Körper mittels Fitness und guter Ernährung ein mächtiges Instrument der Demokratie und bedeute zugleich die Emanzipation vom Arzt.
Bejubeln die einen Chancen und Möglichkeiten einer Selbstüberwachung und beschwören ungeahnte Fähigkeiten, die ein dermaßen selbstbestimmtes Individuum entwickeln kann, ruft der Trend auch Bedenkenträger auf den Plan. Der Mensch unterwerfe sich damit bedingungslos den Gesetzen von Markt, Effizienz und Anpassung, fürchten diese. Bedenkt man, dass in Amerika digitale Gesundheitskontrolle schon bald obligatorisch wird, stellt sich zumindest ein mulmiges Gefühl ein.
Befinden wir uns auf einem Exerzierplatz, auf welchem Kosmetik, Medizin und Ernährungswissenschaft den Marsch blasen? Fakt ist: Die Models in den Hochglanz-Prospekten mit den digital verlängerten Beinen würden beim ersten Schritt umfallen. Doch so neu ist der Gedanke nicht, sich selbst zu fordern und zu fördern und damit ein ideales Abbild seiner Selbst zu schaffen: Ideengeschichtlich entspringt er der Romantik. So kontrollierte schon Johann-Wolfgang von Goethe seinerzeit anhand von Tagebucheinträgen die eigene Leistungsbilanz und befand sich in einer ständigen Feedback-Schleife gegen Trägheit und Selbstbetrug.
Das Denken in Rastern und Systemen darf jedoch nicht zulasten von unserer Arbeitswelt gehen. Das Leben ist zu kurz, um sich dem Diktat eines unablässigen Wettbewerbes zu unterwerfen – unter der Glasglocke eines Drills, der Hoffnung und Leidenschaft erstickt. Damit auch die Kreativität: Denn der schlimmste, professionelle Fehler ist die Abwesenheit von Glück.
Die Intelligenz des Verbrauchers ist letztendlich die wahre Antriebsfeder. Gegen diese Kraft sind auch die kernigsten Neuzeit-Propheten Waisenkinder.
Doch Hand aufs Herz: Halten Sie beim Supermarkt-Rundgang auch unwillkürlich Ausschau nach Light-Produkten, veganen Burgern, frisch gepressten Säften, laktosefreier Schokolade? Oder nach dem idealen Bindemittel für Ihre Smoothies? Kennen Sie am Ende sogar die Profi-Textur aus der weißen, inneren Schicht der Zitrone: jene begehrte Finesse, welche Ihren grünen Shakes eine herrliche Cremigkeit verleiht und auch Fruchtsaucen, Füllungen und Farcen kalorienfrei aufwertet? Dann sind auch Sie in der Seele ein Selbst-Optimierer.
Mehr von Claudia Roosen auf www.roosen-for-schucker.de