Sylter Eier

Eine Kurzgeschichte aus der Gastronomie von Igor Albanese

Fünf restlos überfüllte graue Mülltonnen versperren wie jeden Freitagvormittag die Straße am Haumannplatz und verursachen einen kleinen Stau vor dem Restaurant. Die gestressten Gesichter der Parkplatzsuchenden, die Politessen aus dem Hinterhalt, Anwälte, die, mit schwarzen Roben und Akten unter dem Arm, ihren Termin im Landgericht Essen bereits verpasst haben, das alles ist aus dem Tagesgeschehen nicht wegzudenken.

In den Fenstern der Telefonzelle gegenüber dem Restaurant spiegelt sich die Sonne. Ein greller Strahl attackiert den Patron, der gerade an einem der Tische am Fenster die Bestellung aufnimmt. Zwei ältere Damen, um die er sich hingebungsvoll kümmert, nehmen seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch und lassen sich viel Zeit. Während eine der Damen flüchtig die Speisekarte studiert, widmet sich die andere einem Prospekt der van Gogh-Ausstellung, die zurzeit im Folkwang Museum zu sehen ist. Just in dem Augenblick als die Erste mit einer Frage über die Zusammenstellung des französischen Frühstücks ansetzt, springt die andere begeistert über eine Illustration im Buch, von ihrem Stuhl auf.

„Schau dir das an, wie wundervoll!“
Die Konzentration der anderen Dame lässt plötzlich nach und im nächsten Augenblick blättern beide fasziniert im van Gogh Prospekt weiter. Der Wirt ist dabei sich diskret zurückzuziehen … vergeblich.
„Bleiben Sie hier Herr Ober, wir möchten jetzt, wenn möglich bestellen.“
Der frisch gebackene Gastronom, noch unerfahren und guten Mutes, kehrt zurück zum Tisch. Dabei meidet er den Blickkontakt mit den anderen Gästen, die vergeblich auf ihre Getränke warten.

„Kommen Sie bitte auf den Punkt, Herr Ober!“, sagt die kleinere Dame forsch.
Ihr Ton und ihre Art verraten einen Menschen, der gewohnt ist, mit übertriebenem Respekt bedient zu werden. Der erhobene Zeigefinger soll dem Satz Nachdruck verleihen, doch das Gewicht des Goldes an ihren Händen hindert sie, den Finger in die respektable Höhe zu heben. In den Augen des Wirtes ist sie einfach eine zickige, alte Frau, die ihn an seine Oma erinnert. Na ja, der Berliner Dialekt und die hochnäsige Art haben mit seiner Oma wenig gemeinsam, aber die Gesichtszüge und das Alter der Dame erwecken in ihm eine gewisse Sympathie.

„Meine Damen, das Frühstück beinhaltet Milchkaffee, Croissants, Briekäse, frisch gepressten Orangensaft …“ Während der Litanei versucht er, die mittlerweile laut ausgesprochene Ungeduld eines Pärchens am Nebentisch mit freundlichem Kopfnicken zu dämmen.
Die Damen entscheiden sich soeben für ein kombiniertes Weltfrühstück, als der gelbe Paketwagen der Bundespost, der vor dem Restaurant geparkt hat, wieder für Ablenkung sorgt.

Der uniformierte Postbeamte verlässt den Wagen, bepackt mit zehn Paletten Eiern. Ein gewohntes Bild für den Wirt, denn sein Eierlieferant ist der Schwager des Postboten. Der Postbote liefert nebenberuflich die Eier für den Schwager aus, meistens am Nachmittag mit dem Firmenwagen der Eierfarm, doch wenn es nicht anders geht auch mit dem Postwagen.

Die kleinere Dame verfolgt das Geschehen mit offenem Mund, der Speichel ist dabei die Schminke an ihrem Mundwinkel zu verwischen, der Wirt kann die goldenen Zahnbrücken und Amalgam-Plomben in ihrem Mund zählen. Die andere folgt ihrem Blick. Die Frage steht den Damen auf den Mund geschrieben und er hat die Antwort auf Anhieb parat.

„Sagen Sie mal, bekommen Sie die Eier per Post geliefert?“ Die Beiden schauen hinter den mit Eiern beladenen Postboten her, die Hälse lang gestreckt wie zwei Gänse.
„Selbstverständlich“, sagt der Wirt „Wissen Sie es noch nicht?“
„Was denn?“
„Also, vor einigen Monaten hat meine Frau in der „Brigitte“ oder in der „Freundin“, ich weiß es nicht mehr so genau, gelesen, dass die Eier auf Sylt durch den Jodinhalt der Luft besonders gesund sind. Wir haben uns eine Probe schicken lassen, und von dem Tag an kommt für uns nichts anderes mehr infrage. Die Gäste sind begeistert.“
„Das ist sicherlich sehr teuer“, rutscht es den beiden Damen unisono heraus.
„Ach, wissen Sie, für meine Gäste ist mir nichts zu teuer.“
Der Spruch ist so dick aufgetragen, dass die Beiden es wohl als Spaß verstehen werden, denkt der Wirt, doch stattdessen kommt eine Umbestellung.
Och, wäre es möglich, statt des bestellten Frühstücks Sylter Rühreier mit Shrimps zu bekommen?“
„Selbstverständlich, meine Damen.“ Es ist bereits zu spät, um mit der Wahrheit herauszurücken.
Die Damen haben ihre Teller mit den Eiern aus Dorsten und Shrimps aus der Metro, bis auf den letzten Krümel aufgegessen, der Wirt und sein Restaurant sind auf der Akzeptanzskala um einige Stufen gestiegen, die Rechnung ist mit königlichem Trinkgeld beglichen.
„Wir werden sie weiterempfehlen, so feine Rühreier bekommt man nicht mal in Monaco.“

Der Patrone beobachtet die beiden Damen, wie sie wackeligen Schrittes zum Taxi gehen. Ein Hauch von  schlechtem Gewissen gleitet ihm über dem Rücken. „Na ja, was solls?“

Die Sonne scheint fröhlich weiter, die Mülltonnen sind weggeräumt, die Politessen zählen ihre Strafmandate, und er ist sich sicher, dass sie am Umsatz beteiligt sind. Lächelnd widmet er sich dem Pärchen am Nebentisch.